Die Bundesregierung wollte den Streit um Grenzwerte für Luftschadstoffe schlichten und hat die Wissenschaftsakademie Leopoldina um Hilfe gebeten. Nun ist die Stellungnahme der Experten da - und die Politiker ziehen bereits Schlüsse daraus.
Autos und Lastwagen stehen am Stuttgarter Hauptbahnhof im Stau. Wissenschaftler der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina sprechen sich für eine Verkehrswende in Deutschland aus. Foto: Fabian Sommer
Autos und Lastwagen stehen am Stuttgarter Hauptbahnhof im Stau. Wissenschaftler der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina sprechen sich für eine Verkehrswende in Deutschland aus. Foto: Fabian Sommer - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Führende Wissenschaftler halten begrenzte Diesel-Fahrverbote auf einzelnen Strassen für wenig hilfreich, um die Luft in den Städten zu verbessern.

Sie sprechen von «kurzfristigem Aktionismus».

Die Experten der Nationalen Wissenschaftsakademie Leopoldina empfehlen stattdessen eine umfassende Strategie und eine grundlegende Verkehrswende - mit einem Ausbau vor allem des öffentlichen Nahverkehrs.

Die Wissenschaftler sehen es nicht als vordringlich an, Stickstoffdioxid-Grenzwerte zu verschärfen, die in vielen Städten vor allem durch Diesel-Abgase überschritten werden. Grundsätzlich aber müsse mehr getan werden, um den Ausstoss von Schadstoffen zu verringern. Das gelte auch für Feinstaub und Treibhausgase.

Vor allem der EU-Grenzwert für Stickstoffdioxid (NO2) von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft war in die Kritik geraten, nachdem eine Gruppe von 107 Lungenärzten den gesundheitlichen Nutzen angezweifelt hatte. Um Klarheit zu schaffen, hatte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) die Leopoldina um eine Stellungnahme gebeten. Der Arbeitsgruppe gehörten 20 Professoren aus zwölf Fachgebieten an.

Da der NO2-Grenzwert in vielen deutschen Städten überschritten wird, könnte es zu mehr Fahrverboten für ältere Diesel kommen. Bisher sind in Hamburg zwei Strassenabschnitte gesperrt, in Stuttgart ein grosser Teil des Stadtgebiets.

Die Wissenschaftler kritisieren in ihrer Stellungnahme eine Verengung der Debatte auf NO2 als «nicht zielführend». Feinstaub sei deutlich schädlicher für die Gesundheit. Er könne die Sterblichkeit erhöhen und Erkrankungen der Atemwege, des Herz-Kreislauf-Systems oder auch Lungenkrebs verursachen. Die Politik solle prüfen, ob die Grenzwerte verschärft werden sollten. Feinstaub stammt etwa aus Dieselruss, Reifenabrieb oder Abgasen von Industrie, Kraftwerken und Heizungen.

Die Experten bestätigten aber auch die Gesundheitsgefahr von Stickoxiden (NOx). Sie könnten Symptome von Lungenerkrankungen wie Asthma verschlimmern und trügen zur Bildung von Feinstaub und Ozon bei. Damit wurde die Kritik der 107 Lungenärzte in zentralen Punkten zurückgewiesen. Der Autor des Papiers, Dieter Köhler, hatte Rechenfehler eingeräumt, war aber dabei geblieben, dass Risiken und die Grenzwerte wissenschaftlich nicht hinreichend belegt seien. Martin Lohse, Vize-Präsident der Leopoldina, sagte, Köhler habe sich «vergaloppiert», obwohl er einen Finger in die Wunde gelegt habe.

Weder für Stickstoffdioxid noch für Feinstaub lässt sich den Wissenschaftlern der Leopoldina zufolge ein exakter Wert nennen, unterhalb dessen keine Gesundheitsfolgen zu erwarten seien. Am Ende seien Grenzwerte eine Entscheidung der Politik.

Um die Luftqualität nachhaltig zu verbessern, seien «lokale Massnahmen und kurzfristiger Aktionismus» wenig hilfreich - etwa «kleinräumige und kurzfristige Beschränkungen», die sich gegen einzelne Verursacher der NO2-Belastungen richteten. «Dies gilt unter anderem für Strassensperrungen und isolierte Fahrverbote, die zu einer Verkehrsverlagerung in andere Stadtgebiete führen», hiess es.

Zudem mahnte die Gruppe, der Kampf gegen NO2 dürfe nicht dazu führen, dass klimaschädliche CO2-Emissionen stiegen. Ein kompletter Austausch der Dieselflotte durch Benziner gleicher Gewichtsklasse und gleicher Motorleistung sei nicht empfehlenswert. Diesel stossen bei gleicher Motorenleistung mehr Stickstoffoxid aus, aber weniger CO2. Vielmehr seien «neue Mobilitätskonzepte vor allem in städtischen Ballungsräumen» notwendig, so die Experten.

Sie sprachen sich generell für eine Verkehrswende aus. Dazu zählten alternative Antriebe wie Elektromotoren, ein besseres Verkehrsmanagement und Geschwindigkeitsbeschränkungen auf städtischen Autobahnen sowie ein Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Der Klimaexperte Ottmar Edenhofer sagte, die Verkehrswende senke beim Feinstaub die Risiken für die Gesundheit der Menschen und beim CO2 die Risiken der globalen Erwärmung.

Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) sagte, die Leopoldina bestätige seine Strategie. Das zwei Milliarden-Paket für saubere Luft etwa zur Umrüstung von Diesel-Bussen und Ausbau der E-Mobilität sei wirksam. Streckenbezogene Fahrverbote seien der falsche Weg. Scheuer forderte ausserdem erneut eine Debatte über Schadstoff-Grenzwerte, sie dürften nicht «politisch-ideologisch festgesetzt» sein.

Auch Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) fühlte sich bestätigt. Der Bericht zeige, dass Luftschadstoffe im Vergleich mit anderen Umweltfaktoren am stärksten die Gesundheit gefährden könnten; damit sei der Fokus auf Luftqualität «zwingend notwendig». Die Leopoldina empfehle, den NO2-Grenzwert beizubehalten und die Grenzwerte für Feinstaub zu verschärfen. Da es keinen Schwellenwert für die Gesundheitsgefahr gebe, erscheine es umso wichtiger, sich «eher an schärferen als an schwächeren Grenzwerte zu orientieren».

Das Umweltbundesamt (UBA) schloss sich der Einschätzung an, dass kleinräumige Fahrverbote auf einzelne Strassen nicht der richtige Weg seien, und empfahl stattdessen «weiträumige Umweltzonen», die die gesamten Kerngebiete der Innenstädte umfassten.

Die Bundesregierung dankte der Leopoldina für die erbetene Stellungnahme zu diesem Thema, das viele Bürger beschäftige. Die Ergebnisse würden nun im Einzelnen geprüft, sagte eine Regierungssprecherin.

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