Der Libanon leidet unter der schwersten Krise seiner Geschichte. Hunderttausende Menschen sind in Armut gestürzt. Verzweifelt und hoffnungslos versuchen immer mehr, das Land zu verlassen.
UN-Generalsekretär Antonio Guterres legt einen Kranz am Ort der Explosion im Hafen von Beirut nieder. Bei der Detonation waren im vergangenen Jahr mehr als 190 Menschen gestorben. Foto: Marwan Naamani/dpa
UN-Generalsekretär Antonio Guterres legt einen Kranz am Ort der Explosion im Hafen von Beirut nieder. Bei der Detonation waren im vergangenen Jahr mehr als 190 Menschen gestorben. Foto: Marwan Naamani/dpa - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Das Ziel der Sehnsucht liegt Luftlinie 170 Kilometer entfernt.

So gross ist die Distanz über das Mittelmeer zwischen dem Libanon, Land in einer schweren Wirtschaftskrise, und Zypern, Mitgliedsstaat der Europäischen Union.

Sie waren zu sechst, als sie die Strecke in einem Flüchtlingsboot zurücklegen wollten: Nasir Mohammed, seine Frau, ihre vier Kinder. Sie wollten weg aus dem Elend im Libanon, am besten nach Deutschland. Doch die Reise, in die sie ihre letzte Hoffnung gesetzt hatten, endete in einem Albtraum.

Die Familie ging im September 2020 nahe ihrer Heimatstadt Tripoli im Norden des Libanon an Bord des Bootes. Es war spät abends, sie mussten über felsige Klippen klettern. Der Libanon leidet seit mehr als zwei Jahren unter der schwersten Wirtschaftskrise seiner Geschichte. In Tripoli, ohnehin Armenhaus des Landes, geht es den Menschen besonders schlecht. Nasir Mohammed, 40 Jahre alt, an Diabetes erkrankt, arbeitslos, wusste damals nicht mehr, wie er seine Familie ernähren sollte. Sie hätten alles verkauft, um die Schlepper zu bezahlen, erzählt er. «Wir hofften auf ein besseres Leben.»

Tage hilflos auf dem Meer

Mit fast 50 Menschen hockten sie eng nebeneinander auf dem Boot, ein einfaches Schiff aus Holz ohne Dach oder anderen Schutz vor Sonne, Wind oder Regen. Es waren vor allem Libanesen und Syrer, aber auch Menschen aus dem Jemen und Bangladesch. Als Nasir Mohammed das erzählt, zeigt er ein Foto auf dem Handy, während seine Frau Sainab blass neben ihm auf dem Sofa sitzt. Tagelang trieben sie hilflos auf dem Meer, alleingelassen von den Schleppern und ohne Treibstoff. Essen und Wasser hatten sie verloren, als sie in das Boot kletterten.

Die Familie aus Tripoli gehört zu den Hunderttausenden Menschen im Libanon, die täglich um das Überleben kämpfen müssen. Schon die Zahlen machen deutlich, wie sehr das Land unter der Wirtschaftskrise leidet. Drei Viertel aller Einwohner leben mittlerweile unter der Armutsgrenze. Die libanesische Lira hat 95 Prozent ihres einstigen Wertes verloren. Die Inflation für Lebensmittel liegt bei rund 400 Prozent. Der Mindestlohn betrug vor Beginn der Krise umgerechnet 450 US-Dollar monatlich - jetzt sind es gerade einmal 34 Dollar. Wegen Treibstoffmangels haben viele Haushalte kaum noch Strom. In Kliniken und den Apotheken fehlt es an lebenswichtigen Medikamenten.

Explosion in Beirut

«Wir konnten uns nichts mehr leisten», sagt Nasir. «Alles wurde immer teurer.» Auch mit der Kriminalität und mit Drogen sei es in Tripolis zusehends schlimmer geworden. Als dann die Explosionskatastrophe im Hafen der Hauptstadt Beirut mehr als 190 Menschen tötete und ganze Stadtteile verwüstete, trafen sie die Entscheidung zur Flucht.

Die Lage im Libanon sei «sehr dramatisch», mahnte auch UN-Generalsekretär António Guterres am Montag bei einem Besuch in dem Krisenland. Guterres kennt den Libanon gut, er war schon häufig hier: «Die Wahrheit ist, dass das libanesischen Volk unglaublich leidet.»

In Scharen verlassen die Libanesen das Land, so viele, wie seit dem Bürgerkrieg zwischen 1975 und 1990 nicht mehr. Die besser Ausgebildeten haben Chancen auf Arbeitsvisa im Ausland. Andere fliehen illegal. 1570 Menschen hätten in diesem Jahr versucht, über das Mittelmeer vor allem nach Zypern zu kommen, heisst es beim Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Das sind doppelt so viele wie ein Jahr zuvor. Die tatsächliche Zahl dürfte noch weitaus höher sein.

Ohne Wasser und Proviant

Es ist eine gefährliche Reise, selbst bei gutem Wetter. Ohne Proviant wurden Nasir Mohammed und seine Familie schnell von Hunger und Durst geplagt. Die Sonne verbrannte die Haut. Die Kinder fingen an, um Essen und Wasser zu betteln, vor allem ihr Sohn Mohammed, noch keine zwei Jahre alt. Immer wieder flehte er seine Mutter an, ihm Wasser zu geben. Doch sie hatte nichts. Sie versuchte, das Meerwasser mit den Windeln zu filtern, und tupft es auf die Lippen. Sie kühlte seinen Körper mit einem feuchten Tuch. «Ich habe ihm gesagt: Stirb nicht, bald wird Hilfe kommen», erzählt Sainab. Doch die Hilfe blieb aus.

Nach drei Tagen lag Mohammed regungslos in ihren Armen, völlig dehydriert. Er war tot. «Es gab nichts, was ich tun konnte», sagt die Mutter verzweifelt. «Mein kleines Baby ist gestorben.» Tränen fliessen über ihr Gesicht, der Blick starr. An der Wand des Wohnzimmers hängen Fotos, die den dunkelhaarigen Jungen beim Spielen am Strand zeigen - wohl einer der wenigen glücklichen Momente in diesem kurzen Leben.

Versagen der Politik

Aus jedem Wort seiner trauernden Eltern sprechen Frust, Verzweiflung und Hilflosigkeit. Was die Wirtschaftskrise für die Libanesen noch schlimmer macht, ist das Versagen der Politik. Die kleine Elite, die das Land kontrolliert, und ihre Parteien verstricken sich in Machtkämpfen. Seit der Explosion im Hafen im August 2020 hat der Libanon praktisch keine funktionierende Regierung mehr. Potenzielle internationale Geber wollen erst dann helfen, wenn es weitgehende Reformen gibt, vor allem gegen die grassierende Korruption.

Nasir Mohammed und seine Familie konnten schon die Küste von Zypern am Horizont erkennen, als ein UN-Schiff das Flüchtlingsboot nach Tagen auffand. Doch anstatt auf die Insel in der EU brachte es sie gegen ihren Willen zurück nach Beirut. «Wir haben auf der Flucht alles verloren», klagt der Vater. «Sogar unseren wunderbaren Sohn.»

Seit der Flucht hat sich die Lage im Libanon fast täglich weiter verschlechtert. Wie so viele Libanesen hat auch Nasir Mohammed jegliche Hoffnung auf Besserung verloren. Deswegen, sagte er, würde er wieder fliehen, selbst über das Mittelmeer: «Ich möchte meine Kinder in ein Land bringen, das die Menschen respektiert.»

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