Die Artenvielfalt, von der wir abhängen, schwindet durch den Menschen immer schneller. Ein aufrüttelnder Report mahnt ein Umdenken an.
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Das Wichtigste in Kürze

  • «Lonesome George» starb 2012 mit weltweiter Aufmerksamkeit als letzte Pinta-Riesenschildkröte.

Der Mensch habe schon mindestens 680 Wirbeltierarten zum Aussterben gebracht, ermittelten 145 führende Experten für die erste weltweite Öko-Inventur seit 14 Jahren.

Derzeit ist demnach etwa eine Million von geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten weltweit vom Aussterben bedroht. «Die Verluste von Ökosystemen und Arten schaffen eine direkte Bedrohung des Wohlergehens der Menschheit in allen Regionen der Welt», mahnt einer der Hauptautoren, Josef Settele, vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Halle.

«Das essenzielle, verbindende Netz des Lebens wird kleiner und bekommt Fransen. Irgendwann ist es zu löchrig und hält nicht mehr», ergänzt Settele. Wenn immer mehr Insektenarten sterben, gebe es irgendwann keine mehr, die zur Bestäubung der Pflanzen nachrücken könnten, und es gebe Schwierigkeiten mit der Nahrungsproduktion. «Artenvielfalt ist unsere Lebensversicherung.»

Die weltweite Rate des Artensterbens sei derzeit zehn- bis hundertmal höher als im Schnitt der vergangenen zehn Millionen Jahre und sie steige weiter, heisst es in dem Kernpunktepapier, das der Weltbiodiversitätsrat IPBES am Montag in Paris vorstellte. Drei Jahre hatten die Experten 15.000 Literaturquellen durchgesehen und ihre Erkenntnisse dann auf 40 Seiten zusammengefasst.

Ein Schlüsselelement für eine nachhaltige Entwicklung sei das Umdenken in Wirtschaft und Politik, schreiben die Autoren: Weg von kurzfristigen Gewinnen und weg von Indikatoren wie dem Bruttoinlandsprodukt hin zu langfristigem Nutzen für die Menschheit. Weg vom Paradigma des Wirtschaftswachstums hin zur Entwicklung eines neuen, nachhaltigen Finanz- und Wirtschaftssystems. Menschen sollten ermutigt werden, von Überkonsum und Abfallbergen wegzukommen. Ein Preis für Industriegüter, der die wahren sozialen und ökologischen Kosten nicht beachte, könne Waldzerstörung und Überfischung fördern.

Derzeit sieht es in vielen Bereichen schlecht aus:

WALD: Rund 100 Millionen Hektar (ha) Tropenwald, die dreifache Fläche Deutschlands, verschwanden laut IPBES bereits von 1980 bis 2000, etwa für Rinderherden in Lateinamerika (42 ha) und Palmölplantagen in Südostasien (7,5 ha) - letzteres steckt etwa in Lebensmitteln, Shampoo, Kosmetik und Biosprit. Die Krux: Palmöl hat einen sehr geringen Flächenverbrauch pro Liter. Würde Deutschland das Palmöl komplett gegen andere Öle tauschen, wären nach Berechnung der Umweltstiftung WWF rund 1,4 Millionen Hektar mehr Anbaufläche notwendig. Sie rät dennoch zur Zurückhaltung bei Palmöl-Produkten. Deutschland ist zu 32 Prozent mit Wald bedeckt, auch wenn ein Urwald fehlt. «Es gibt in Deutschland seit dem Mittelalter keinen völlig naturbelassenen Wald mehr», sagt Peter Finck vom Bundesamt für Naturschutz (BfN). «Allerdings ist derzeit auf 2,8 Prozent der Waldfläche eine natürliche Entwicklung ohne forstliche Nutzung dauerhaft gesichert.» Tendenz steigend.

LANDWIRTSCHAFT: Von der Rapsmonokultur bis zum Schlammloch für das Bioschwein - über ein Drittel der globalen Landfläche ist Agrarland. Die Agrarproduktion hat sich laut IPBES seit 1970 vervierfacht. Wegen des weltweiten Verlustes von Bienen und anderen Bestäubern seien Ernteerträge im Wert von jährlich 235 bis 577 Milliarden Dollar (210 bis 515 Mrd Euro) in Gefahr. In Deutschland ist sogar rund die Hälfte der Fläche Agrarland, etwa 17 Millionen Hektar. «Um den Bedarf an Agrarprodukten zu decken, beansprucht die Bundesrepublik zusätzlich 5,5 Millionen Hektar in anderen Ländern», schreibt der WWF in einer Studie von 2015.

UMWELTVERSCHMUTZUNG: In die Meere gelangt laut IPBES heute zehnmal so viel Plastik wie 1980. Es schädige mindestens 267 Tierarten, darunter Schildkröten und Vögel, und könne über die Nahrung auch zum Menschen kommen. Der Grossteil davon fällt laut WWF zwar in Südostasien an. Doch erst kürzlich wurde bekannt, dass deutsche Unternehmen Plastikmüll in Länder wie Malaysia und Indonesien exportieren, wo sie zur Umweltverschmutzung beitragen. Nach IPBES-Angaben gelangen zudem 300 bis 400 Millionen Tonnen Schwermetalle, Lösungsmittel und andere giftige Stoffe jährlich in die Flüsse der Welt. Unsere Kleidung verschmutzt die Umwelt gleich mehrfach: Giftstoffe aus den Bekleidungsfabriken Asiens gelangten dort häufig in Flüsse und Seen, beklagt etwa Greenpeace. Zudem entfallen auf den Baumwollanbau laut Umweltbundesamt etwa 25 Prozent des weltweiten Insektizidmarktes.

FISCHEREI: Rund ein Drittel der Fischbestände sind laut IPBES überfischt. Der Rat plädiert unter anderem für wirksame Fangquoten, Schutzgebiete und eine enge Zusammenarbeit mit Fischerei und Konsumenten. Letzteren rät der WWF, auf entsprechende Öko-Siegel zu achten: Für Fische aus Wildfang empfiehlt er - mit Einschränkungen - das MSC-Siegel, für Produkte aus Aquakultur das ASC-Siegel. Der WWF hat einen Einkaufsratgeber, in dem Fischarten nach ökologischen Kriterien beurteilt werden. Darin heisst es etwa: auf Dornhai verzichten, beim Seelachs zugreifen.

GELD: Der IPBES-Bericht verzeichnet Hunderte Milliarden Dollar an naturschädlichen Subventionen pro Jahr etwa für Kohle, Öl, Gas und Landwirtschaft. Allein 55 Milliarden Euro solcher Unterstützungen werden laut Bundesamt für Naturschutz (BfN) in Deutschland gezahlt. «Naturschädigendes Verhalten darf nicht länger zu Vorteilen, sondern muss spürbar zu Nachteilen im Wettbewerb führen», sagt BfN-Präsidentin Beate Jessel, die gerade ein Papier dazu präsentierte. Statt die industrielle Landwirtschaft zu subventionieren, solle diese etwa für überschüssigen Stickstoff Abgaben zahlen. Angesichts eines Geldvermögens von insgesamt rund 6000 Milliarden Euro können auch viele Deutsche mit der Wahl ihrer Bank, Versicherungen oder Aktien etwas bewirken. «Die Verwendung von öffentlichem und privatem Geld hat einen enormen Einfluss darauf, wie gut oder schlecht wir mit der Natur umgehen, und wir müssen hier umschwenken», sagt Christoph Thies von Greenpeace.

KLIMA: Der IPBES-Report beschäftigt sich auch mit dem Klimawandel. Klar ist demnach: Etliche Arten leiden unter der Erderwärmung. Selbst bei einer Begrenzung auf 1,5 bis 2 Grad würden die Verbreitungsgebiete der meisten Arten laut IPBES stark schrumpfen, das Artensterben würde beschleunigt. Andererseits kosten Monokulturen etwa zur Produktion von Biosprit viel Naturfläche. «Der IPBES-Bericht ist ein Weckruf, dass wir Klima und Naturschutz gemeinsam denken müssen», sagt Thies (Greenpeace). So könne etwa der Schutz oder die natürliche Bewirtschaftung von Wäldern und Mooren massgeblich zur CO2-Reduktion beitragen.

«Jeder Einzelne hat durch sein Verhalten zwar Einfluss auf das System, doch die Politik muss Rahmenbedingungen setzen», fordert Günter Mitlacher vom WWF. «Es kann nicht sein, dass konventionell produzierte Lebensmittel immer noch billiger sind als solche aus dem Bio-Anbau.» Es gebe viele Stellschrauben, die im Rahmen der Marktwirtschaft möglich seien, wie etwa eine sozialverträgliche CO2-Steuer.

Die einwöchige Diskussion mit den Delegierten von 132 Staaten um das 40-Seiten-Papier sei sehr produktiv gewesen, sagt Hauptautor Settele. «Alle Staaten waren sich der Wichtigkeit des Themas sehr bewusst.» Nun sei wichtig, dass der Report zu einem Transformationsprozess führe und international Regierungen und auch Ministerien kooperieren - «was sich schon innerhalb Deutschlands als schwierig erweist». Auch das Konsumverhalten müsse sich ändern. «Insgesamt muss man sich ein bisschen besser sortieren, auf allen Ebenen.»

«Lonesome George», die letzte Pinta-Riesenschildkröte, starb 2012 auf den Galápagos-Inseln. Foto: Tui De Roy/Png/Handout/PNG
«Lonesome George», die letzte Pinta-Riesenschildkröte, starb 2012 auf den Galápagos-Inseln. Foto: Tui De Roy/Png/Handout/PNG - dpa-infocom GmbH
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