Sommerserie: Wenn «Ärzte ohne Grenzen» an die Grenzen gehen

Was bedeutet es, an die Grenzen zu gehen? Was überhaupt ist eine Grenze? Das hat die Medienschule St. Gallen in einer Sommerserie für Nau.ch ausgelotet.

Was ist eine Grenze? Das lotet die Nau-Sommerserie «An die Grenzen gehen» mit verschiedensten Perspektiven aus. - Pixabay

Das Wichtigste in Kürze

  • Dieser Artikel ist Teil der Sommerserie «An die Grenzen gehen».
  • Für Nau realisiert haben diese Serie die Schüler der Medienschule St. Gallen.

Sie werden bewundert für ihre Einsätze in Kriegs- und Krisengebieten. Die Mitarbeitenden der Non Profit-Organisation „Médecins Sans Frontières/Ärzte ohne Grenzen (MSF)“. Sie leisten dabei Einsätze, die von ihnen alles abverlangen. Vier Mitarbeitende von MSF erzählen in einem Interview mit Anaïs Ludolph, MSF, mit welchen Extremsituationen sie konfrontiert werden und wie sie damit umgehen.

Aufgenommen und übersetzt von Daniela Gaiotto, Medienschule St. Gallen

«Jungen Flüchtlingen den Zugang zu psychologischer Unterstützung ermöglichen»

Ana-María Tíjerino, Psychologin. - Laurence Hoenig, MSF

Es war im Irak 2012, im Flüchtlingslager Domiz. Im Gegensatz zu dem, was man allgemein erwarten würde, sind es in solch extremen Situationen oft auch die jungen, alleinstehenden Männer, die am schutzbedürftigsten sind. Das habe ich in Domiz beobachtet, wo ich vor der Herausforderung stand, diesen Männern zu helfen.

In einem ersten Schritt stellte ich einen männlichen Übersetzer an. In einem zweiten Schritt verbrachte ich einfach nur Zeit mit ihnen, und sprach sie nicht direkt auf ihre psychische Verfassung an.

Schliesslich waren sie es, die auf uns zukamen. Sie wussten, dass wir da waren, um ihnen zuzuhören und ihnen zu helfen. Sie fühlten sich wieder umsorgt und als Menschen wahrgenommen. Heute engagieren sich viele von ihnen selber in Flüchtlingslagern für die psychische Gesundheit der Menschen dort.

«In einem Kriegsgebiet als Arzt zu arbeiten, erfordert spezifisches Training»

Alan Gonzalez, Arzt. - Louise Annaud, MSF

2011, Libyen. Egal wie tief und wie gefährlich die Wunden unserer Patienten im Kriegsgebiet sind: Das Ziel ist immer, ihr Leben zu retten. Bevor man sich auf die Wunde konzentriert, muss man schauen, ob der Patient atmet, ob sein Kreislauf stabil ist und wieviel Blut er verloren hat.

Die Medizin in einem Kriegsgebiet ist nicht vergleichbar mit der Arbeit unter normalen Umständen.

Die Bedingungen in Libyen waren extrem, und meine medizinischen Mitarbeiter waren nicht richtig darauf vorbereitet. Fünf von ihnen waren immer noch in der Ausbildung. Ich führte eine Woche lang ein intensives Training mit ihnen durch. Der Erfolg zeigte sich, als unser Team von sieben Ärzten gleichzeitig fünf Patienten in kritischem Zustand behandelte.

«Wenn sogar Patienten im Spital mit anpacken»

Aline Ribeiro, Personalverantwortliche - MSF

Nach dem Erdbeben in Haiti, 2010. Überall herrschte Unsicherheit. Das MSF-Spital Léogâne war bereits überfüllt. Eines Nachts gab es einen Busunfall, bei dem 30 Menschen getötet und 150 verletzt wurden. Die Anzahl der Verletzten, die ins Spital kamen, überstieg die Kapazität bei weitem. Es herrschte pures Chaos.

Wir funktionierten kurzerhand das Spital-Parking in ein Flüchtlingslager um und taten alles, was in unserer Macht stand, um die Verletzten zu versorgen. Dann passierte etwas Unglaubliches: Patienten, die ihre Behandlung bereits erhalten hatten, verliessen ihre Betten und begannen uns zu helfen. Teamgeist und menschliches Mitgefühl können manchmal Wunder bewirken.

«Lernen mit traumatischen Erlebnissen umzugehen, ist überlebenswichtig»

Naoufel Dridi, Notfall-Logistiker. - Martin Zingg, MSF

2014, Guinea, Ebola-Ausbruch in Westafrika. Ich kam mit dem ersten Team an, um ein Ebola-Behandlungszentrum einzurichten. Wir mussten sowohl mit Ebola infizierte Patienten in die Isolierstation überführen, wie auch sichere Begräbnisse für die Verstorbenen durchführen.

Als Logistik-Koordinator habe ich unter anderem die Leichen vor der Übergabe an ihre Familien jeweils dekontaminiert. Dieser Prozess dauerte oft mehr als eine halbe Stunde – Zeit, die du mit dem Toten alleine verbringst. Das war ein traumatisches Erlebnis, und ich musste damit zurechtkommen. Nach solchen Erlebnissen ist es überlebenswichtig, dass man physisch und psychisch Distanz findet.

Wenn ich heute von einem Einsatz zurückkomme, versuche ich mich mehr darauf zu konzentrieren wo ich bin, als wo ich war. Das ermöglicht es mir weiterzumachen und traumatische Erlebnisse zu verkraften.