Angela Merkel und Jogi Löw im Gleichschritt
Fussball und Politik verlaufen in Deutschland seit Jahrzehnten parallel. Weiterer Beleg: Jogi Löw und Angela Merkel treten im gleichen Jahr zurück.

Das Wichtigste in Kürze
- Politik und Sport sind sich in Deutschland sehr nahe.
- Norbert Seitz, ein deutscher Soziologe, spricht über die Rücktritte von Merkel und Löw.
Am Anfang war es eher eine Spielerei. Der Frankfurter Soziologe Norbert Seitz (heute 72) entwickelte schon vor 40 Jahren eine Art Widerspiegelungstheorie. In Deutschland sind Fussball und Politik stark verknüpft und inspirieren sich gegenseitig.
Dass das «Wunder von Bern», der Sieg der deutschen Nationalelf an der WM 1954, auch für den wirtschaftlichen Aufschwung der vom Weltkrieg gebeutelten Nation steht, ist selbst für Laien klar. Aber Seitz ging in Publikationen wie «Bananenrepublik und Gurkentruppe» oder «Kohl und Maradona» weiter ins Detail.

Er erklärte den Trainer von 1954, Sepp Herberger, zum Konrad Adenauer des Fussballs. Spielsysteme der Nationalelf wurden mit den jeweiligen Regierungssystemen in Einklang gebracht.
So fällt die erfolgreiche Beckenbauer-Müller-Aera (EM-Titel 1972, WM-Titel 1974) mit den Erfolgen der sozialliberalen Koalition unter den SPD-Grössen Willi Brandt und Helmut Schmidt zusammen.

1982, das Verratsjahr
Interessant auch die Übereinstimmungen, die Seitz 1982 ausmachte: In der Politik verrät FDP-Aussenminister Hans-Dietrich Genscher die sozialliberale Koalition, um Helmut Kohl (CDU) an die Macht zu bringen.
Und die Nationalelf verrät in einem abgekarteten WM-Spiel Algerien. Sie erspielt gegen Österreich mit 90 Minuten passivem Herumstehen ein Wunschresultat, das beiden weiterhilft und die Afrikaner rauskegelt. Für Seitz ist es der fussballerische Genscherismus.

Und jetzt also die Parallelen Jogi Löw und Angela Merkel, mit dem Rücktritt im gleichen Jahr. Ihre langen Amtszeiten beginnen fast gleichzeitig: Merkel 2005, Löw 2006. Beide Karrieren sind recht erfolgreich, mit markanten Erfolgen wie dem stufenweisen Atomausstieg Merkels 2011 und dem Weltmeistertitel Löws 2014.
Aber auch das Aussitzen von Krisen haben beide gemeinsam. Bei Merkel ist es die Flüchtlingskrise 2015 («Wir schaffen das!»). Bei Löw sind es die WM 2018 und die jüngsten Niederlagen gegen Spanien und Nordmazedonien – nach misslungenem Verjüngungsprozess.

Dazu Löw ganz im Stil Merkels: «Wir werden uns nicht von unserer Linie abbringen lassen.»
«Selbstherrlich und übermüdet»
Die beiden Rücktritte waren für Norbert Seitz schon vor drei Jahren überfällig. Nach dem WM-Ausscheiden 2018 machte er bei Löw/Merkel in einem «Standard»-Interview «Selbstherrlichkeit, Bräsigkeit und Übermüdung» aus. Seitz im Sommer 2018: «Beide sind hoch ablösungsbedürftig und haben ihren Zenit überschritten.»
Damit schlug Seitz den nächsten Doppelpass Fussball-Politik. Diesmal mit prophetischen Qualitäten.