Wahl-Umfrage: Berner Stapi vor Abwahl – Claude Longchamp analysiert

Yannick Zimmermann
Yannick Zimmermann

Bern,

Knapp drei Wochen vor den Wahlen in der Stadt Bern hat das Meinungsforschungsinstitut Sotomo Umfrageresultate veröffentlicht. Claude Longchamp analysiert.

Alec von Graffenried Kruit
Marieke Kruit (SP) wird wohl das Stadtpräsidium von Alec von Graffenried (GFL) übernehmen. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Laut einer Umfrage übernimmt Marieke Kruit das Stadtpräsidium von Alec von Graffenried.
  • Von Graffenried könnte zudem auch die Wiederwahl in den Gemeinderat verpassen.
  • Die Bürgerlichen haben gute Chancen auf einen zweiten Sitz im fünfköpfigen Gemeinderat.

Am 24. November finden in der Stadt Bern die Wahlen statt. Die Stimmberechtigten können 80 Stadtratsmitglieder, fünf Gemeinderatsmitglieder und das Stadtpräsidium wählen.

Im Auftrag der Zeitung «Bund» hat das Meinungsforschungsinstitut Sotomo eine Umfrage durchgeführt, um erste Tendenzen zu erkennen. Politologe Claude Longchamp schätzt die Ergebnisse für Nau.ch ein.

Politologe Claude Longchamp
Politologe Claude Longchamp analysiert für Nau.ch die Umfrageresultate zu den Wahlen in der Stadt Bern. - Nau.ch

Nau.ch: Starten wir mit dem Stadtpräsidium. Hier liegt Marieke Kruit (SP) mit 44 Prozent der Stimmen deutlich vor dem amtierenden Stadtpräsidenten Alec von Graffenried (GFL, 26 %). Dahinter folgen Melanie Mettler (GLP, 17 %) und Janosch Weyermann (SVP, 13 %). Damit wird Kruit wohl neue Stadtpräsidentin. Oder trauen Sie von Graffenried die Wende zu?

Claude Longchamp: Nein, das ist in der Umfrage ja fast 2:1. Spiegelt sich diese Deutlichkeit auch im Endergebnis, kommt es kaum zu einem zweiten Wahlgang. Selbst wenn Mettler alle bürgerlichen Stimmen machen würde, wäre sie immer noch hinter Kruit. Und die SP-Kandidatin – nicht die GLP-Bewerberin! – ist die Favoritin der Mitte-Wählenden und der Kleinparteien. Sie dürfte gesetzt sein.

«Bürgerliches Lager ist mit Einheitsliste geeint»

Nau.ch: Wechseln wir zu den Gemeinderatswahlen. Die beiden Listen kommen auf 64 Prozent (Rot-Grün-Mitte) und 36 Prozent der Stimmen (Meh Farb für Bärn). Das macht eine Verschiebung der Verteilung von 4:1 zu 3:2 wahrscheinlich. Wie konnte es so weit kommen?

Longchamp: Da muss man kurz zurückblättern: Vor vier Jahren gab es vier Listen. RGM kam auf 64 Prozent, die Mitte mit CVP, BDP und GLP auf 19 Prozent und die Rechte mit SVP und FDP auf 15 Prozent. Das gab knapp vier Sitze für RGM, einen Sitz für die Mitte, der an die CVP ging, und null Sitze für die Rechte. Diesmal ist das bürgerliche Lager mit einer Einheitsliste geeint, was die Wahlchancen im Proporzwahlrecht erhöht.

Nau.ch: Liegt das nur an dieser neuen bürgerlichen Einheitsliste oder hat die Verschiebung der Verteilung auch politische Gründe?

Longchamp: Mettler wäre wohl auch via eine GLP-Liste gewählt worden. Für den Zusammenschluss sprach der Sitzgewinn. Das Szenario mit zwei Sitzen für «Meh Farb für Bärn» war von Anfang an das Wahrscheinlichste. Und die Umfrage widerspricht ihm nicht.

Alec von Graffenried
Alec von Graffenried wird sein Amt als Berner Stadtpräsident wohl verlieren. Auch im Gemeinderat droht das Aus. - keystone

Nau.ch: Für von Graffenried könnte es doppelt bitter werden. Neben dem drohenden Aus als Stadtpräsident könnte er auch die Wiederwahl in den Gemeinderat verpassen. In der Umfrage liegt er bei RGM als Vierter 1 Prozent hinter Ursina Anderegg (GB). Ist die Entscheidung hier bereits gefallen?

Longchamp: Da würde ich vorsichtiger urteilen. Der angegebene Stichprobenfehler beträgt 1,8 Prozent. Die Differenz zwischen von Graffenried und Anderegg ist somit nicht aussagekräftig. Das Umfrage-Ergebnis könnte auch umgekehrt sein.

Alec von Graffenried wird wohl als Berner Stadtpräsident abgelöst – was hältst du davon?

Nau.ch: Was spricht dafür, dass von Graffenried die Wiederwahl in den Gemeinderat doch noch schafft?

Longchamp: Für von Graffenried sprechen die Erfahrung in der Exekutive und seine eingemittete Position. Das könnte ihm etwas Stimmen mehr aus dem Zentrum bringen als seiner Konkurrentin. Nicht unterschätzen würde ich auch die Mobilisierung durch die Umfrage. Die mögliche Abwahl im Stadtpräsidium könnte einen Schub für seine Gemeinderatskandidatur bringen.

Nau.ch: Welche Trümpfe hat Anderegg? Ist es primär ihre Nähe zu den Jungparteien und Bewegungen wie beispielsweise der Frauen- oder Asylbewegung?

Longchamp: Das auch, aber nicht nur. Sie hat mit dem GB und Ja! die etwas grössere Hausmacht, die zwar weit links steht, aber in der linksten Stadt der Schweiz durchaus mitregieren will und wie keine andere Partei durch eine Frau vertreten sein will. Das motiviert und mobilisiert.

Nau.ch: Welche Rolle spielt hier die SP?

Longchamp: Es kann gut sein, dass die SP den Ausschlag gibt. Wenn sie von drei RGM-Sitzen ausgeht, wäre von Graffenried in politischen Fragen der Entscheidende. Ohne ihn ist die linke Mehrheit im Gemeinderat sicherer respektive wäre bei einem Patt Kruit massgeblich. Das ist für die SP sicher angenehmer. Zudem wäre es die perfekte Rache für die Wahlen 2016, als von Graffenried der SP-Frau Ursula Wyss das Präsidium wegschnappte.

Wahlen Bern Stadt
Marieke Kruit (2. v. l.) und Matthias Aebischer (l.) von der SP haben ihren Sitz im Gemeinderat wohl auf sicher. Ursina Anderegg kämpft gegen Alec von Graffenried um den letzten RGM-Sitz. - keystone

Nau.ch: Gehen wir zum Mitte-Rechts-Bündnis. Hier scheint Melanie Mettler (GLP, 9,8 %) gesetzt. Ultra eng ist es beim zweiten Gemeinderatssitz zwischen Florence Pärli (FDP, 8,6 %) und Béatrice Wertli (Mitte, 8,3 %). Wer wird hier am Ende das Rennen machen?

Longchamp: Meines Erachtens ist das absolut offen. Wertli ist erfahrener und vernetzter. Sie hat durchaus exekutive Erfahrungen. Pärli ist jünger, aber versiert. Ihre Partei führt den sichtbareren Wahlkampf.

Nau.ch: Welche Faktoren werden zwischen Pärli und Wertli entscheiden?

Longchamp: Ich denke, nun entscheiden die Listenänderungen. Der Kampf über oder unter dem Strich auf der bürgerlichen Liste wird nun auf dieser selber ausgetragen werden. Da hat Pärli den Vorteil der etwas stärkeren Hausmacht und ist wohl näher bei der SVP. Wertli, näher dem Zentrum, müsste im Gegenzug der GLP oder RGM ein Angebot machen, ohne die Wählenden ihrer Liste zu brüskieren.

Kommentare

Nicole

Es ist wie das letzte mal, eine Wahl zwischen Pest und Cholera. Keiner braucht dies.

User #5810 (nicht angemeldet)

…oder andersrum gesagt, vom Regen in die Traufe!

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