Politologe Claude Longchamp blickt zurück und nach vorne: Wie geht die Schweiz mit Krisen um? Und wie prägt das unsere Politik und die Entscheidungsfindung?
Claude Longchamp spricht mit Nau.ch über 2023 und die Zeit danach. - Nau.ch / Nico Leuthold

Das Wichtigste in Kürze

  • Seit drei Jahren prägen Krisen die Schweizer Bevölkerung und somit auch die Politik.
  • Politikwissenschafter Claude Longchamp erklärt, wie sich das auf die Zukunft auswirkt.
  • Wie kann die Schweiz noch wichtige Reformen durchbringen?
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Das Jahr 2023 liegt im Rückspiegel – im kommenden Jahr stehen wichtige politische Themen auf dem Programm: Nau.ch und Politologe Claude Longchamp wagen den Blick in die Zukunft.

Herr und Frau Schweizer starten das Jahr mit reichlich Zukunftsskepsis, erklärt der Experte: Zwar sei die Pandemie endgültig vorbei – gleichzeitig sei mit dem Ukraine-Krieg aber ein neues «Krisenphänomen» emporgestiegen.

Krisen machen Status quo attraktiver

Niemand gehe davon aus, dass dieser Konflikt die Schweiz direkt betreffe, so Longchamp. Dennoch zeigten sich auch hierzulande indirekte Folgen sehr deutlich: «Das betrifft uns ausgesprochen stark – mit der wirtschaftlichen Situation, der Kaufkraftfrage und der Inflation

Blicken Sie zuversichtlich in die Zukunft?

Üblicherweise blicke gerade die Schweiz sehr zuversichtlich in die Zukunft – «heute sehe ich aber eher so eine Art Zukunftsskepsis.» Dies komme insbesondere in der Risikobereitschaft der Bevölkerung zum Ausdruck, wie der Politologe erklärt. Menschen hätten vermehrt das Bedürfnis, am Status quo festzuhalten und zukünftigen Schaden abzuwenden.

«Diese Schadensdiskussion ist heute so präsent, dass wir uns immer nur auf den Minimalkonsens einigen können.» Der Status quo erscheine dann als Optimallösung, während Veränderungen in die eine oder andere Richtung vermieden würden, so der Experte.

Laut Claude Longchamp gibt es in der Politik drei grosse Baustellen und genug Blockade-Potenzial. - Nau.ch / Nico Leuthold

Aus Sicht Longchamps gebe es in der Politik drei grosse Baustellen. Erstens, die Europapolitik, «ein offensichtliches Baufeld». Auch das Gesundheits- und Sozialwesen sei seit Jahren reif für Reformen.

Zudem entwickle sich zunehmend ein «latenter Protest in Sachen Umweltschutz», teilweise sogar aus rechten Kreisen. Eine Art «Ökokonservatismus», der sich gegen die Modernisierung der Energiepolitik wehre.

Claude Longchamp: «Vertrauen nicht auf starken Mann für Reformen»

Um aus der Abwärtsspirale von Krisen herauszukommen, brauche es normalerweise Leadership, sagt Claude Longchamp. Aber das werde in der Schweiz mit Skepsis betrachtet: «Wir haben kein System, in dem wir auf einen starken Mann oder eine starke Frau vertrauen.»

Es müsse sich ein Minimalkonsens aus drei bis vier Regierungsparteien etablieren, um Reformen zu verabschieden. Doch auch Gewerkschaften und Verbände seien für Kompromisse essenziell: Und in fast allen Bereichen der Politik gebe es derzeit nur genügend Opposition.

«Die schweizerische Lösung ist ‹zusammenfinden›», fasst der Politologe zusammen. «Eine starke Führungsperson wollen wir nicht.» Genauso verhalte es sich mit einer Mehrheitspartei, die den Ton angibt. Hat also die Bevölkerung daher – optimistisch gesehen – die Chance, sich selber zu helfen?

Wie hievt sich die Schweiz ohne starke Führungsperson aus schwierigen Situationen? Mit Kompromissen. - Nau.ch / Nico Leuthold

Optimismus könne man nicht einfach anordnen, sagt Claude Longchamp. Dafür müsse es Lernprozesse geben. Auch in heiklen Zeiten habe man in der Politik immer wieder Flexibilität beim Handeln gehabt, um Kompromisse zu finden. Sollte dies 2024 auch geschehen, wäre Longchamp zuversichtlich, dass sich die Schweiz selber aus einer schwierigen Situation herausziehen könnte.

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