Wird die Lage auf den Intensivstationen «dramatisiert»? Der Zürcher Spital-Verband widerspricht dieser Darstellung eines Klinik-Direktors vehement.
Ronald Alder VZK Intensivtation
Ronald Alder (links) ist Leiter Public Affairs und stellvertretender Geschäftsleiter des Verbands Zürcher Krankenhäuser (VZK). Ärzte und Pflegepersonal kümmern sich um einen Covid-Patienten im Zürcher Stadtspital Triemli (rechts). - zvg / Keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Der Direktor einer Privatklinik hält die Lage bei den Intensivbetten für «dramatisiert».
  • Beim Verband Zürcher Krankenhäuser hat man wenig Verständnis für diese Aussage.
  • Die Lage sei angespannt und könnte sich noch weiter verschärfen.
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Der Direktor der Zürcher Privatklinik Bethanien, Marc Elmiger, sieht keine Krise des Gesundheitswesens. Die Lage werde zu dramatisch dargestellt, denn der Bettenengpass beziehe sich vorwiegend auf die grossen Listenspitäler. Es habe genügend Intensivbetten, im Notfall könnten auch noch mehr zur Verfügung gestellt werden. Zum Beispiel durch Einbezug der Privatkliniken.

Nau.ch hat von Ronald Alder vom Verband der Zürcher Krankenhäuser wissen wollen, was an dieser Beurteilung dran ist. Alder zeichnet ein ganz anderes Bild der Situation auf den Intensivstationen: Personal und Ressourcen am Anschlag und wenig Aussicht auf Besserung.

Nau.ch: Der Direktor der Privatklinik Bethanien kritisiert die «Angst-Berichterstattung» rund um die Intensivbetten. Die Lage auf den Intensivstationen sei weit weniger dramatisch, als dies immer geschildert werde. 20 Prozent freie Betten sei «Courant normal» und nicht ein Gesundheitswesen kurz vor dem Kollaps. Deckt sich dies mit Ihrer Einschätzung?

Klinik Bethanien Zürich Spital
Aussenansicht der Privatklinik Bethanien in Zürich, aufgenommen am 21. Juli 2009. - Keystone

Ronald Alder: Der Direktor der Privatklinik Bethanien kommt mir vor wie ein gut bezahlter Fussballspieler, der sich auf der Reservebank sonnt, während sich sein Team auf dem Rasen abrackert. Er scheint von der Realität in den Akutspitälern keine Ahnung zu haben. Fakt ist im Kanton Zürich, dass 10 der 190 zertifizierten Intensivbetten frei sind. Die Auslastung beträgt also 95 Prozent.

Der limitierende Faktor sind nicht die Betten oder Beatmungsgeräte, sondern das qualifizierte Personal. Fakt ist auch, dass die Spitäler und insbesondere die Pflegefachkräfte und die Ärztinnen und Ärzte einen hervorragenden Job machen.

Nau.ch: Aber es hatte immer genügend Intensivbetten, in den letzten Tagen sogar eher wieder etwas mehr.

Ronald Alder: Nein. Die Aufnahme der Covid-Patienten kann nur gewährleistet werden, weil andere Behandlungen verschoben werden. Dies sind u.a. Herzoperationen oder Tumorbehandlungen, die eigentlich nicht verschiebbar sind, weil mit Folgeschäden zu rechnen ist.

Kanton Zürich Intensivbetten
Hospitalisierte und beatmete Covid-Patienten im Kanton Zürich in den letzten drei Monaten. - zh.ch / GD

Vor zwei Wochen waren 70 der 190 Betten, also mehr als ein Drittel, jeweils mit Covid-Patienten belegt. 9 von 10 waren ungeimpft. Und das zu einem Zeitpunkt, wo die Leute noch eher draussen sind als drinnen.

Die Belegung durch Covid-Patienten ging jetzt etwas zurück auf rund 60. Aber es waren im ganzen Kanton immer nur etwa 10 Betten frei. Das ist ungenügend für die Aufrechterhaltung der Versorgungssicherheit.

Nau.ch: Das sind mehr freie Betten, als manch ein Kanton insgesamt hat. Warum spricht man dann von Krise?

Ronald Alder: Einerseits sind die nackten Zahlen trügerisch. Man kann ein Intensivbett nicht einfach wieder belegen, unmittelbar nachdem es frei geworden ist. Es muss zum Beispiel kontrolliert und gereinigt werden. Zudem müssen auch Notfälle aufgenommen werden können.

Hier sehen wir aktuell, dass bei der Suche nach freien Betten ein Spiessrutenlauf tatsächlich stattfindet. Nehmen Sie einen Töfffahrer mit einem schweren Unfall. Der Rettungsdienst ruft beim nächstgelegenen Spital an, die haben keinen Platz. Anruf beim nächstbesten Spital, auch hier Fehlanzeige. So geht wertvolle Zeit verloren.

Nau.ch: Gemäss Klinik-Direktor Marc Elmiger können auch jetzt noch Kapazitäten schnell und unkompliziert geschaffen werden. Zum Beispiel indem man gewisse Wahleingriffe noch 24 Stunden vor dem Termin wieder absagt.

Ambulanz Inselspital Notfallstation
Ein Ambulanzfahrzeug trifft am Inselspital ein, beim Eingang zur Covid-Triage und der Notfallstation, während der Corona-Krise, am Samstag, 24. Oktober 2020, in Bern. - Keystone

Ronald Alder: Man muss sich der gesundheitlichen Konsequenzen bewusst sein. Das zeigt sich bei geplanten Operationen wie an der Hüfte. Man kann diese eine gewisse Zeit hinausschieben, aber wenn es den Patienten schmerzt, ist das schon mal nicht mehr lustig. Ein anderer Fall sind die Herz- oder Krebs-Operationen: Diese kann man eigentlich nicht verschieben. Wenn es gar nicht anders geht, schaut man halt von Tag zu Tag, aber das ist keine ideale Situation.

Nau.ch: Aber sie würden zustimmen: Es gibt noch Potenzial bei den Intensivbetten, man ist nicht am Ende der Fahnenstange. Gegebenenfalls kann man auch Platz schaffen, indem Patienten auf andere Spitäler verlegt werden.

Ronald Alder: Das tut man bereits jetzt. Man tauscht sich unter den Spitälern sehr gut aus, macht auch Verlegungen. Und das vor dem Hintergrund, dass das Fachpersonal und die Ärzteschaft seit 18 Monaten im Hochbetrieb arbeiten…

Covid-19-Intensivabteilung Triemli
Ärzte und Pflegende kümmern sich um Covid-Patienten auf der Covid-19-Intensivabteilung im Stadtspital Triemli am 10. Dezember 2020 in Zürich. - Keystone

Nau.ch: Was macht Ihnen für die nächsten Wochen und Monate denn am meisten Sorgen?

Ronald Alder: Covid-Patienten sind eine grosse Belastung, weil sie überdurchschnittlich lange auf der Intensivstation liegen und eine medizinisch anspruchsvolle Behandlung benötigen. Salopp gesagt, die Spitäler haben zwei Probleme: Den Fachkräftemangel und den finanziellen Aspekt. Generell sind im Bereich der allgemeinversicherten Patienten die Kosten der Spitäler infolge zu tiefer Tarife nicht gedeckt. So ist auch die Kostendeckung der Covid-Patienten ungenügend.

Nau.ch: Was der Kanton Zürich jetzt aber mit bis zu 10 Millionen Franken abgleichen will…

Ronald Alder: …weil er eine Analyse gemacht hat über das letzte Jahr. Man hat festgestellt, dass pro Tag und Patient eine Finanzierungslücke von 2000 Franken auf der Intensivstation entsteht. Das summiert sich natürlich und hilft sicher nicht, wenn man gleichzeitig die Personalsituation und die Ausbildung verbessern will.

Soll die Schweiz in den Ausbau von zertifizierten (inkl. Personal) Intensivbetten investieren?

Nau.ch: Die Finanzen können also angegangen werden. Das scheint auch der Politik lieber zu sein, als noch einmal Milliarden wegen Lockdowns zu verlieren. Wird sich auch die Personalsituation einpendeln?

Ronald Alder: Wie erwähnt, der Anteil an Covid-Patienten ist leicht zurückgegangen. Aber wir haben grossen Respekt vor der kalten Jahreszeit, wenn die Leute eher drinnen sind. Dann wird die Ansteckungsrate wohl wieder steigen. Auch sind 90 Prozent der Covid-Patienten auf den IPS Ungeimpfte. Wenn alle geimpft wären, dann hätten wir viel weniger Patienten in den Intensivstationen.

Die Personalsituation ist sehr angespannt. Als im Frühling die Covid-Belastung zurückging, hat man die verschobenen Operationen nachgeholt. Das heisst, die Pflegenden sind gleich von der einen Extrembelastung in die nächste gerutscht.

Extrembelastungen kommen in den Spitälern immer wieder vor, sei es durch einen grossen Unfall oder eine Grippewelle. Aber das ist vorübergehend und nicht, wie jetzt, ein Dauerzustand.

Intensivbetten Spitäler Kanton Zürich
Die Anzahl zertifizierter Intensivbetten in den Spitälern des Kantons Zürich und deren Belegung mit Stand vom 16. September 2021. - zh.ch / GD

Nau.ch: Trotzdem sagt Herr Elmiger, er habe den Eindruck, es herrsche Normalbetrieb. Die Intensivbetten würden mit einem sehr hohen Standard betrieben, keine Spur von Krisenmodus. Also hat man doch noch unangezapfte Reserven?

Ronald Alder: Es ist schwierig zu sagen, warum er zu diesem Schluss kommt. Aber er spricht eine Frage an, die schon zu stellen ist. Wenn man den Anspruch hat, die Versorgung der Patienten so zu leisten, wie man das bis anhin gemacht hat, braucht es mehr finanzielle Mittel für die Spitäler. Wenn man sich auf «Kriegsmedizin» einstellt, dann braucht es natürlich weniger Personal.

Das war aber nie ein Thema. Wir haben immer gesagt, jeder bekommt die Behandlung, die er nötig hat, auch unabhängig vom Versicherungsstatus. Alles andere hat dann für die Betroffenen Konsequenzen bezüglich medizinischer und pflegerischer Qualität, Versorgungssicherheit und Zugänglichkeit.

Wir sehen ja in unseren Nachbarländern, wie die Medizin dort betrieben wird. Die Frage ist, ob wir auf dieses Niveau runterwollen.

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