Die Schriftstellerin Nadine Olonetzky aus Zürich zeigt in ihrem Buch, dass die Shoah nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Schweiz relevant ist.
Nadine Olonetzky
Schriftstellerin Nadine Olonetzky posiert im neuen Botanischen Garten der Universität Zürich für ein Portrait, am 15. April 2024 in Zürich. (KEYSTONE/Michael Buholzer) - KEYSTONE

Die Zürcher Autorin Nadine Olonetzky macht in ihrer Familiengeschichte «Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist» klar, dass die Shoah nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Schweiz von Bedeutung ist. Und dass die Bilder von Verfolgung damals überlagert werden von Bildern aus dem Heute.

Auf einer Bank im Botanischen Garten in Zürich hat Benjamin Olonetzky seiner damals 15-jährigen Tochter zum ersten und einzigen Mal erzählt, wie er den Zweiten Weltkrieg überlebt hat. Jahrzehnte später, Ende 2019, nahm diese Tochter, die Schweizer Redakteurin und Herausgeberin Nadine Olonetzky Kontakt auf mit der «Initiative Stolpersteine Stuttgart». Sie wollte einen Stolperstein setzen lassen für ihren Grossvater Moritz Olonetzky. «Einen jener zehn mal zehn Zentimeter grossen Steine mit Messingplatte, auf der sein Name und sein Schicksal eingraviert ist, sollte fortan an ihn erinnern», schreibt sie in ihrem Buch.

Im Vorfeld dazu hatte Olonetzky ihre biografische Recherche mit einer Internetrecherche nach dem Namen Olonetzky begonnen. Im Kapitel «Lesen» beschreibt sie, wie sie zuerst nach dem Grossvater Moritz, dann nach der Grossmutter Malka, dem Namen des Vaters sowie denen der Tanten und Onkeln Anna, Paula, Efrem und Avram suchte. Die vielen Dokumente, die sie fand, hatte sie nicht erwartet.

Grossvater Moritz war bis 1938 Tabakhändler und -vertreter gewesen. Dann verpönten die Nazis den Tabak als «die Rache des roten Mannes an der weissen Rasse», die Firma wurde «arisiert», die jüdischen Angestellten wurden zur Zwangsarbeit eingezogen.

Eine plausible Geschichte gepuzzelt

Schritt für Schritt verfolgt Nadine Olonetzky im ersten Teil ihres Buches anhand von vorliegenden Dokumenten, wie ihrer Familie Hab und Gut genommen und dann auch jegliche Menschlichkeit aberkannt wurde. Die Sprache aus den Dokumenten wirkt dabei genauso ungeheuerlich euphemistisch und bürokratisch wie das Geschehen. «Der eigentliche Auslöser, das Material auch in Zitaten zu verwenden, war der Begriff 'Das Imstichlassen des Hausrats'. Nach allem, was die Nazis meinem Grossvater genommen hatten, diese Sprache zu lesen, löste in mir den Impuls aus: Das muss ich unbedingt erzählen», sagte Nadine Olonetzky gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.

Alles haben die Nationalsozialisten dokumentiert: «Der Film ‹Die Sammlung der Stuttgarter Juden auf dem Killesberg›, in einem Fragment erhalten, hatte vorzuführen, wie gut die 'Abwanderung' organisiert war. [...] Die Gestapo beschlagnahmte alles; das war ein Befehl. Alles ausser 55 Reichsmark. Den 'Transport in den Osten' bezahlten alle selbst, 50 RM für die einfache Fahrkarte 3. Klasse ohne Rückfahrt, 5 RM für ein Proviantpaket», heisst es im Buch.

Olonetzky lässt sich über die Schultern schauen bei dieser Recherche. Sie behauptet keine Eindeutigkeit, stellt Fragen und legt offen, dass sie nicht für alles Antworten hat. Wie in einem Kriminalroman puzzelt sie aus dokumentierten Momenten und Zeugenaussagen Schritt für Schritt eine plausible Geschichte – trotz fehlerhaften Schreibweisen, Ungenauigkeiten und Widersprüchen.

Langer Kampf um Wiedergutmachung

Der zweite Teil des Buches beginnt nach der gelungenen Flucht des Vaters, die in einem der 600 Auffang- und Arbeitslager in der Schweiz endete. Nach dem Krieg folgte relativ schnell die Aufforderung, er solle «die Schweiz bei der ersten sich bietenden zumutbaren Gelegenheit» verlassen. Beispielsweise nach Israel. Dort versuchte der Cousin Efrem einen Neuanfang als Pressefotograf.

Benjamin Olonetzky war psychisch und physisch erst einmal nicht in der Verfassung, dass er aus der Schweiz gewiesen werden konnte. Er ist geblieben. 24 Jahre lang kämpfte er um Wiedergutmachung: «Mein Vater hatte alles und auch alle Ausweise etc. verloren und musste aber dann alles beweisen, unter Eid erklären, Zeugen ausfindig machen. Und dann kamen die Rückweisungen und die Forderung nach neuen Beweisen, bis er am Ende – nach den üblichen Runterrechnereien – einen Vergleich akzeptieren musste. Auch das wollte ich erzählen.»

In ihrem Buch blickt Olonetzky auch kritisch darauf, dass eine solche «Wiedergutmachung» zuerst den Jüdinnen und Juden vorbehalten war, die in ihren Klagen von jüdischen Organisationen (finanziell) unterstützt wurden. Sinti und Roma, Homosexuelle, Menschen mit körperlichen Einschränkungen und andere Opfer wurden rechtlich lange nicht berücksichtigt.

Während Olonetzky sich durch über 2500 Dokumente kämpfte, wird ein anderer Krieg omnipräsent: Die Bilder aus der heutigen Ukraine überlagern sich mit der Recherche erzählt sie im Gespräch: «Auch heute werden Menschen verfolgt, sie müssen fliehen, verlieren alles, trauern um Angehörige, bauen sich an einem neuen Ort wieder etwas auf, leben mit dem, was sie erlitten haben. Finden wieder Glück, haben aber Schatten.»*

*Dieser Text von Philine Erni, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert

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