Gemäss OECD-Daten arbeiten Menschen in Mexiko oder Costa Rica deutlich mehr als Schweizer – doch der Schein trügt: Die Daten sind mit Vorsicht zu geniessen.
Jahresarbeitszeit Teilzeitarbeit Work-Life-Balance
OECD-Daten zeigen: Menschen in Mexiko oder Costa Rica arbeiten rund 30 Prozent mehr, als Menschen in der Schweiz. Der Experte weiss, dass das so nicht stimmt. (Symbolbild) - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Gemäss OECD-Daten arbeiten Schweizer weniger als Menschen in Mexiko oder Costa Rica.
  • Das Resultat verblüfft. Ein Experte ordnet ein: «Das kann nicht global gesagt werden.»
  • HSG-Professor Reto Föllmi weiss: «Schweizerinnen und Schweizer arbeiten sehr viel!»
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Jedes Jahr veröffentlicht die «Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung» (OECD) detaillierte Statistiken über Arbeitskräfte, Beschäftigung und Arbeitslosigkeit.

Basierend auf den OECD-Daten hat das kanadische Wirtschaftsmagazin «Visual Capitalist» die durchschnittliche Anzahl der jährlich geleisteten Arbeitsstunden nach Ländern aufgeschlüsselt: Die Resultate verblüffen – zumindest auf den ersten Blick.

Schweiz im untersten Mittelfeld?

Demnach arbeiten Menschen in Mexiko oder Costa Rica jährlich gut 30 Prozent mehr als Menschen in der Schweiz. Im internationalen Vergleich rangiert die Schweiz mit 1533 Stunden Jahresarbeitszeit lediglich auf dem 33. von 45 Plätzen – unterstes Mittelfeld!

Jahresarbeitszeit OECD Visual Capitalist
Die Jahresarbeitszeit nach Ländern: Die Schweiz belegt den 33. von 45 Rängen – unterstes Mittelfeld. - Visual Capitalist

Ähnlich verhält es sich gemäss den OECD-Daten mit anderen europäischen Ländern: Mit 1882 Stunden Jahresarbeitszeit belegt der europäische Spitzenreiter Malta lediglich den sechsten Gesamtrang. Ausgerechnet Deutschland bildet mit 1349 Stunden das weltweite Schlusslicht – von wegen preussischer Fleiss!

Strengere Arbeitsgesetze und Fokus auf Work-Life-Balance

Die Resultate widerspiegelten die Arbeitsdynamik in Mexiko, erklären die Autoren: In dem nordamerikanischen Land gilt eine Sechs-Tage-Woche mit 48 Stunden vertraglich festgelegter Arbeitszeit.

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Die vergleichsweise «schlechte» Positionierung der westlichen Länder sei primär auf Arbeitszeitregelungen und einen stärkeren Fokus auf die Work-Life-Balance zurückzuführen. (Symbolbild) - keystone

Die Positionierung der westlichen Länder wiederum sei primär auf strengere Arbeitsgesetze und den stärkeren Fokus auf eine Work-Life-Balance zurückzuführen.

Eine Studie mit blinden Flecken

Gerade in dieser Deutlichkeit hätte trotzdem kaum jemand mit solchen Resultaten gerechnet. Doch der Schein trügt: Die OECD-Daten sind aggregiert – Vollzeit- und Teilzeitbeschäftigungen können so nur zusammengefasst betrachtet werden.

Jahresarbeitszeit Teilzeitarbeit Work-Life-Balance
Reto Föllmi ist überzeugt: «Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern arbeiten die Menschen hierzulande aber sehr viel!» (Symbolbild)
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Viele Menschen in der Schweiz arbeiten Teilzeit. Dies wird in den OECD-Daten allerdings nicht berücksichtig. (Symbolbild)
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Dies könne zu einer Verzerrung der Statistik führen, erklärt der Experte. (Symbolbild)
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Die Serviceorientierung in der Schweiz sei sehr gross: Ein Verzicht auf «Dienst nach Vorschrift» sei typisch Schweizerisch. (Symbolbild)
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So würden Schweizerinnen und Schweizer beispielsweise deutlich öfters in ihrer Freizeit arbeiten, als unsere Nachbarn, erklärt Wirtschaftsexperte Föllmi. (Symbolbild)

Volkswirtschaftsprofessor Reto Föllmi erklärt: «Die OECD-Daten beruhen auf nationalen Statistiken und zeigen lediglich auf, wie viele Stunden pro Person gearbeitet wird. In Ländern, in denen viele Menschen Teilzeit arbeiten, fällt diese durchschnittliche Stundenzahl entsprechend tiefer aus.»

Ausserdem würden die OECD-Daten nur diejenigen Menschen berücksichtigen, welche überhaupt am Arbeitsmarkt teilnehmen: Die sogenannte Arbeitsmarktpartizipation ist in der Schweiz sehr hoch – auch dieser Faktor könne zu Verzerrungen führen, erklärt der Experte.

Reto Föllmi HSG Volkswirtschaftsexperte
HSG-Volkswirtschaftsprofessor Reto Föllmi weiss: «Anhand dieser Daten kann nicht global gesagt werden, dass Menschen in Mexiko mehr arbeiten, als Menschen in der Schweiz.» - zVg

Letztlich bedeute dies, dass insbesondere in westlichen Ländern mit vielen Teilzeitbeschäftigten und hoher Arbeitsmarktpartizipation die geleistete Jahresarbeitszeit massiv unterschätzt wird. Der Wirtschaftsexperte betont: «Bei solchen Verhältniszahlen muss man Zähler und Nenner immer genau anschauen!»

«Schweizerinnen und Schweizer arbeiten sehr viel!»

Er ist überzeugt: «Anhand dieser Daten kann nicht global gesagt werden, dass Menschen in Mexiko mehr arbeiten als Menschen in der Schweiz.» Gleichzeitig hebt Föllmi hervor, dass man auch nicht einfach behaupten könne, das Gegenteil sei der Fall.

Dennoch: «Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern arbeiten die Menschen hierzulande aber sehr viel!» Der Verzicht auf «Dienst nach Vorschrift» und damit eine gewisse Serviceorientierung sei «typisch schweizerisch», erklärt der HSG-Professor.

Arbeit in der Freizeit
Unsoziale Arbeitszeiten: Ergebnisse aus einer europaweiten Erhebung der Arbeitsbedingungen von 2021. - Seco / Nau.ch

So würden Schweizer beispielsweise deutlich mehr in ihrer Freizeit arbeiten, um den hohen Arbeitsanforderungen zu entsprechen. Dabei verweist Föllmi auf eine europaweite Studie, auf die auch das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) erst diese Woche hinwies.

Ein Datensatz mit grossem Potenzial

Trotzdem ist er überzeugt, dass der OECD-Datensatz prinzipiell eine gute Datengrundlage darstelle, die nicht ohne weiteres übertroffen werden könne. «Um verlässliche Aussagen über unterschiedliche Arbeitszeiten in verschiedenen Ländern zu machen, müssten Teilzeitarbeitende jedoch aus der Erhebung ausgeschlossen werden.»

Arbeiten Sie mehr als 1533 Stunden im Jahr? Das sind knapp 30 Stunden pro Woche.

Da die OECD über die nötigen Daten verfüge, wäre eine solche Studie theoretisch umsetzbar: «Man könnte den Anteil der Vollzeitbeschäftigten herbeiziehen, um mit vertretbarem Aufwand mit demselben Datensatz ein genaueres Bild zu erhalten.»

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