Warum sollen Frauen nicht unrasiert in die Badi gehen?
«Nur Frauenkörper werden erbarmungslos seziert, bewertet und entmenschlicht», schreibt unsere Kolumnistin Verena Brunschweiger.

Das Wichtigste in Kürze
- Dr. Verena E. Brunschweiger schreibt auf Nau.ch regelmässig Kolumnen.
- Heute schreibt sie über Schönheitsnormen.
- Das gepflegte Bodyshaming sei endlich zurück, schreibt Brunschweiger ironisch.
Im Frühjahr 2020 lese ich einen Artikel über vier Frauen in Zürich, die allesamt nicht den herrschenden Schönheitsnormen entsprechen.
Eine Frau hört mit 52 Jahren, sie wäre zu alt für einen Bikini (!). Zwei andere sind nicht schlank, eine weitere hat eine Behinderung. «Trotzdem» zeigen sich alle vier in dieser Bademontur. Und machen anderen Frauen Mut, das ebenfalls zu tun.
Diese vier Frauen sind ganz wunderbar. Sie stellen nicht nur die dominante Kultur in Frage, sondern sie präsentieren selbstbewusst eine Alternative, die viel Druck von einer Unzahl an Frauen nimmt.
Sie stellen sich nämlich vor jedem Gang ins Frei- oder Hallenbad exakt diese Frage.
Die Frauen versuchen, die Übermacht der Medien zu brechen, die Frauenköpfe kolonisieren, indem sie ihr Selbstwertgefühl unterminieren – und ihnen tausende Tipps und Tricks unterbreiten. Tipps, wie man sich dem «perfekten Bikinikörper», ein auf ewig unerreichbares «Ziel», so erfolgreich wie möglich nähern könne.
Fitness-Studios oder Diät? Nein, danke!
Man muss nicht sämtliche Industriezweige unterstützen, die einen dazu auffordern, alles zu tun für den perfekten Beach Body.
Man kann auf Fitness-Studios ohne weiteres einfach ganz verzichten. Man muss keine verrückte Diät machen, keine Bräunungsoptionen wählen und kein Nagel- und Waxing-Studio besuchen. Nein, man kann auch einfach ohne all diesen Aufwand schwimmen gehen.

Wenn Frauen im Alltag auf die Frage, warum sie nicht öfter schwimmen gingen, obwohl sie Lust darauf hätten, antworten, dass sie nicht überall rasiert wären und sich gerade fett fühlten, dann stimmt etwas nicht mit unserer Gesellschaft. Nicht mit diesen Frauen.
Aber kaum sind fünf Jahre vergangen, schon erfasst der Rechtsruck auch die Ästhetik.
Schönheit von innen reicht nicht
Die vier Schweizerinnen resümierten 2020 noch, dass Schönheit eben von innen komme. Gut, die Strategie ist nicht neu. Und sie reicht auch nicht.
Das geht in Richtung Resignation. Man sieht halt «objektiv» nicht so toll aus und muss hoffen, dann «wenigstens» eine witzige Persönlichkeit zu sein. Nein, diese Normen selbst müssen weg!
Und nicht bestätigt durch Modelshows und andere Machwerke, die Mädchen und Frauen gnadenlos einimpfen, so und nicht anders aussehen zu müssen.

Dabei sind die Geschmäcker so unterschiedlich wie die Individuen. Das muss noch viel mehr ins kollektive Bewusstsein gerückt werden.
Werbung mit «heissen Blondinen» ist wieder möglich
Stattdessen passiert das genaue Gegenteil. Endlich ist es wieder okay, Werbung mit hotten Blondinen zu machen! Endlich darf eine Frau, die nicht schwarz, trans und mehrgewichtig ist, wieder in Spots auftauchen! Die Maskulinisten jubilieren.
Klar, der «Male Gaze» (Frauen werden durch die Augen eines heterosexuellen Mannes betrachtet) wird endlich wieder umschmeichelt. Und dass Frauen jeden Alters das ausbaden, ist diesen Männern auch gerade recht.
So kommt es dazu, dass junge Frauen mit passablem Äusseren verzweifelte Statements posten. Beispielsweise, dass sie mit diesem Gesicht nicht leben können. «Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, möchte ich mich zusammenrollen und sterben», heisst es. Das ist eine absolute Katastrophe!
Da gibt es dann Witzbolde, die glauben, so jemand fische nur ungeschickt nach Komplimenten. Tja, sorry, das geschieht für gewöhnlich doch auf etwas andere Weise.
Solche Leute brauchen Hilfe
Die Frau in diesem Fall führt an, dass eine Operation, die ihr Gesicht ihrer Ansicht nach optimieren würde, 3000 Euro kosten würde, die sie nicht aufbringt.
Wohlgemerkt: Wir reden hier nicht von einer Entstellung, sondern einem ganz gewöhnlichen Gesicht, das objektiv keinerlei Grund darstellt für einen operativen Eingriff irgendeiner Art. Insofern sind sich die meisten einig: Solche Leute brauchen Hilfe und Begleitung, die sich mit ihrer Psyche befasst. Fast immer betrifft dies Frauen.
Aber man kann nicht einfach ignorieren, dass es auch und gerade unsere Gesellschaft ist, welche Mädchen und Frauen in solche Krisen treibt.
Hier muss man genauso ansetzen wie bei den Opfern – und nicht wieder mal nur Symptombekämpfung veranstalten.
Body Positivity muss das Normale werden
Und ja, die eine oder andere Grundschule thematisiert Selbstbewusstsein für Mädchen. Ich bin gut so, wie ich bin. Aber dass das immer noch nicht reicht, sieht man an Schicksalen wie dem obigen.
Body Positivity muss das Normale werden, nicht die Ausnahme. Und genau das soll jetzt wieder kippen?
Übrigens, ein paar Kilo Mehrgewicht sind nicht automatisch Garant für kaputte Knie, Diabetes und Rückenschmerzen.

Besonders perfide ist, dass etliche Branchen die vorgebliche Sorge um die Gesundheit der Frauen als Maske benutzen. Um sie einerseits zum Konsum bestimmter Produkte zu animieren. Andererseits aber für das Patriarchat möglichst appetitlich und leicht beherrschbar herzurichten.
Eine Frau, die ständig latent Hunger hat, ist einfach problemloser zu handlen …
Wie kann man die tieferen Schichten der Wahrnehmung und Einschätzung erreichen – und modifizieren in Richtung einer grösseren Selbstakzeptanz? Man würde so unendlich viel gewinnen!
Daher muss man bereits jetzt, wo die gerade erst gemachten Errungenschaften schon wieder flöten gehen sollen, aktiv werden. Was gerade beim Thema Bodyshaming ganz leicht jedem Einzelnen von uns möglich ist. Wenn man das denn möchte.
Wenn alte Männer über junge Frauen urteilen
Leider gibt es halt überall Leute wie die Trump-Fans in Arkansas, die im Rahmen ihres gruseligen Projekts «Return To The Land» ein Dorf aufbauen, das nur für Weisse gedacht ist, in welchem Homosexuelle, Juden und Schwarze nicht erwünscht sind.
Solche wollen natürlich auch nur Werbung mit blonden, blauäugigen, hellhäutigen, jungen, dünnen, gefügigen Frauen sehen.

Und wie seit jeher sind Männer natürlich perfekt so wie sie sind. Nur Frauenkörper werden erbarmungslos seziert, bewertet und entmenschlicht.
Ein 80-jähriger Mehrgewichtiger darf sich schon en détail über angebliche kleine «Mängel» einer schlanken 27-Jährigen äussern, oder?
Schliesslich ist er das Subjekt, sie das Objekt. Es lebe der Backlash!
Zur Person: Dr. Verena E. Brunschweiger, Autorin, Aktivistin und Feministin, studierte Deutsch, Englisch und Philosophie/Ethik an der Universität Regensburg. 2019 schlug ihr Manifest «Kinderfrei statt kinderlos» ein und errang internationale Beachtung.