Wieso Verkehrsberuhigungen nichts mit linker Ideologie zu tun haben, sondern eine Notwendigkeit unserer Zeit sind. Ein Gastbeitrag von Raphael Wyss (JA!)
raphael wyss
Raphael Wyss ist Geograph, Vorstandsmitglied im Verein Spurwechsel und kandidiert für den Grossen Rat. - Raphael Wyss

Das Wichtigste in Kürze

  • Raphael Wyss erklärt in seinem Gastbeitrag die Notwendigkeit eines zeitgemässen Verkehrs.
  • Heute sind Strassen nicht auf Menschen, sondern motorisierte Verkehrsmittel zugeschnitten.
  • Dies entspricht den aktuellen Bedürfnissen der dicht bewohnten Stadtzentren nicht.
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Verkehrsberuhigungen, Parkplatzabbau und Veloförderung sind zu politischen Reizworten geworden. In der Stadt Bern ist der Kampf dagegen gefühlt das einzige Thema, mit dem die Rechtsbürgerlichen heute noch Politik machen. Der linksregierten Stadt wird regelmässig ideologische Verblendung vorgeworfen. Beispielsweise, wenn sie mal wieder eine Begegnungszone einrichtet oder eine Auto- für eine Velospur aufhebt.

Veloweg. (Symbolbild) - keystone

Die politischen Verantwortlichen tun wenig, um diesen Vorwurf zu widerlegen, denn sie haben trotzdem eine solide Mehrheit für ihre Verkehrspolitik. Tatsächlich stützen sie die bürgerliche Sichtweise indirekt, indem minimale Verbesserungen für den Veloverkehr das Attribut „Velooffensive“ aufstempeln. Dies lässt eine geradezu visionäre Verkehrspolitik vermuten. In diesem Artikel soll aufgezeigt werden, dass Verkehrsberuhigungen und Veloförderung nichts mit linker Ideologie zu tun haben. Sie sind eine logische Notwendigkeit unserer Zeit.

Die Entwicklung von Städten nach dem Zweiten Weltkrieg

Um die Situation besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick zurück in die Nachkriegszeit. In dieser Epoche des wirtschaftlichen Aufschwungs versprach das erschwinglich gewordene Auto nahezu grenzenlose Freiheit. Im ganzen Land wurde ihm mit ungeteilter Unterstützung von links bis rechts die nötige teure Infrastruktur geschaffen. Die Autobahnen, eigentlich primär für den Fernverkehr geplant, forcierten bald eine Entwicklung, die als Peri-Urbanisierung bezeichnet wird:

Die Menschen zogen aus der engen Stadt in neu gebaute Siedlungen auf dem Land entlang der grossen Verkehrsachsen. Neue Schnellstrassen erlaubten es ihnen, 50 Kilometer oder noch weiter von ihrem städtischen Arbeitsplatz entfernt zu wohnen. Sie konnten die Vorzüge des Landlebens geniessen. Wer weiter in den schrumpfenden Städten wohnen blieb, hatte zu akzeptieren, dass die Strassen in den Quartieren zu Einfallsachsen in die Stadtzentren ausgebaut wurden. Dort gingen die Menschen aus dem Umland ihrer Arbeit nach und Läden stillten die Konsumlust der Bevölkerung.

Biel
Eine Strasse in der Stadt Biel. - Keystone

Die Städte waren zu Arbeits- und Freizeitzentren ihres Umlands verkommen, ihre Funktion als Lebensraum wurde vernachlässigt. Die Menschen in den verkehrsbelasteten Quartieren konnten sich damit trösten, mit ihrem Auto schnell ins (noch) grüne Umland zu gelangen. Dort konnten sie die Ruhe und Erholung zu finden, die sie in der Stadt vergeblich suchten.

Wegen Bevölkerungsdichte werden Zentren «reurbanisiert»

Dies begann sich erst um 1990 zu ändern, als die Menschen wieder vermehrt die Städte als Lebensraum entdeckten („Reurbanisierung“). Veränderte Lebensentwürfe, in denen der kleinbürgerliche Traum vom Einfamilienhaus im Grünen keinen Platz hatte, dürften dazu beigetragen haben. Mindestens ebenso wichtig war aber die einfache Erkenntnis, dass eine fortlaufende Ausbreitung des Siedlungsgebiets bei der Schweizer Bevölkerungsdichte schlicht nicht möglich, geschweige denn nachhaltig ist.

Wohnung Zürich Coronavirus
Menschen stehen für eine Wohnungsbesichtigung in Zürich Schlange. - Keystone

Sie war auch verantwortlich dafür, dass die neue Entwicklung wiederum von links bis rechts (grundsätzlich) positiv beurteilt wurde. Entsprechend wurden die eidgenössischen, kantonalen und kommunalen Entwicklungskonzepte angepasst – getreu der Devise „Siedlungsentwicklung nach innen“ (SEin). Sie besagt, dass das Bevölkerungswachstum fortan möglichst im bereits bebauten Gebiet stattfinden sollte. „SEin oder nicht SEin“ lautete seither in Bern die zentrale Frage, wenn es um die Bewilligung von Ortsplanungen und Bauprojekten ging.

So unbestritten diese Stossrichtung ist, so unklar scheinen gewissen Kreisen die nötigen Konsequenzen zu sein. Der neue Schwerpunkt der Siedlungsentwicklung heisst, dass die dicht bebauten Zentren wieder ihrer ursprünglichen Aufgabe als Lebensraum nachkommen sollen. Als solche haben sie bestimmte Bedürfnisse zu erfüllen.

Öffentlicher Raum für die Menschen – nicht für das Auto

Der spärlich bemessene öffentliche Raum muss wieder als Aufenthalts- und Begegnungsort dienen können. Dies ist nicht möglich, wenn die Strassen so einseitig wie heute auf die Bedürfnisse des motorisierten Verkehrs zugeschnitten sind. Vor 65 Jahren wurde der öffentliche Raum auf das Auto zugeschnitten. Heute müsste er erneut an die veränderten Gegebenheiten angepasst werden.

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Engagiert gegen den überrissenen Ausbau der Autobahnen rund um Bern: Raphael Wyss (1. von links) an einer gemeinsamen Aktion des Vereins Spurwechsel und des Klimastreiks gegen die Verbreiterung der A1 im Grauholz. - Raphael Wyss

Linke Regierungen lassen sich in den Städten kleine Schritte in diese Richtung als grosses Verdienst anrechnen lassen. Dies ist erstaunlich. Noch unverständlicher ist aber die Haltung der Bürgerlichen: Sie bekennen sich zur neuen Stossrichtung in der Siedlungsentwicklung, weigern sich aber, die nötigen Anpassungen des öffentlichen Raums konstruktiv mitzugestalten. Stattdessen halten sie krampfhaft an einem Zustand fest, der Ausdruck einer längst vergangenen Epoche ist.

Die JA! setzt sich bereits heute im Berner Stadtrat konsequent für einen lebenswerten öffentlichen Raum ein. Dieser gehört den Menschen und nicht dem Auto.

Damit wir das künftig auch im Grossen Rat tun können, sind wir am 27. März auf Deine Stimme angewiesen!

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