Neue AKW? Die Schweiz verdient eine sachliche Strom-Debatte!
Die Schweiz verdiene eine technologieoffene Debatte um die Stromnachfrage, findet Kolumnist Hans-Ulrich Bigler. Auch die Kernenergie müsse eine Rolle spielen.

Das Wichtigste in Kürze
- Kolumnist Hans-Ulrich Bigler schreibt über Stromversorgung.
- Wer eine stabile Stromversorgung wolle, müsse heute die Weichen stellen.
- Auch die Option mit Kernenergie müsse dabei geprüft werden.
- Bigler ist Präsident des Nuklearforums Schweiz.
Die Schweiz steht in den nächsten Jahren vor einem beispiellosen Umbau ihres Energiesystems. Die fossilen Energien sollen ersetzt werden.
Elektromobilität, Wärmepumpen, der Ausbau von Industrieprozessen mit Strom sowie die Digitalisierung in Wirtschaft und Verwaltung führen dazu, dass der Strombedarf nicht konstant bleibt – sondern deutlich steigt. Und zwar dauerhaft.
Ein wesentlicher Treiber wird die steigende Nutzung von Künstlicher Intelligenz (KI) sein.
Der Bericht «Perspektiven für die Kernenergie in der Schweiz», kürzlich publiziert von den Akademien der Wissenschaften Schweiz, beansprucht für sich, Orientierung in dieser komplexen energiepolitischen Debatte zu bieten.
Tatsächlich aber blendet er zentrale Entwicklungen der Realität aus.
Steigender Strombedarf nicht berücksichtigt
Besonders frappierend: Der künftig massiv steigende Strombedarf durch Digitalisierung, Elektrifizierung und Künstliche Intelligenz wird kaum berücksichtigt. Dabei ist genau dieser Bedarf die zentrale Herausforderung jeder Energiezukunft.
Fünf- bis sechsmal mehr Strom
Noch klarer wird die Lage mit Blick auf Rechenzentren. Laut den Vorab-Ergebnissen einer aktuellen Studie des Bundesamts für Energie (BFE) verbrauchten Rechenzentren in der Schweiz 2022 rund zwei Terawattstunden Strom.
Schon bis 2035 wird ein Anstieg auf über 6 TWh pro Jahr erwartet – das ist fast das Dreifache. Zum Vergleich: Alle Haushalte in Zürich und Genf zusammen verbrauchen pro Jahr etwa 1,2 TWh.
Das bedeutet: Die Rechenzentren allein werden bald fünf- bis sechsmal mehr Strom benötigen als diese beiden grossen Städte zusammen.
Mehr gesicherte Leistung
Trotzdem kommt dieser Strombedarf im Bericht der Akademien kaum vor. Weder quantitativ noch strategisch.
Dabei ist klar: Wenn die Stromnachfrage steigt, dann braucht es nicht weniger, sondern mehr gesicherte Leistung. Und das ganzjährig, wetterunabhängig, emissionsfrei und kosteneffizient.
Genau hier hätte die Kernenergie eine wichtige Rolle. Doch im Bericht wird ihr möglicher Beitrag für die Zukunft der Schweiz fast durchweg als rein hypothetische Option behandelt. Als wäre ihr Beitrag für die Zukunft der Schweiz rein theoretischer Natur.
Es fehlen belastbare Systemvergleiche
Neue Anlagen seien zu teuer, zu spät verfügbar und gesellschaftlich zu kontrovers, so die verkürzte Argumentation. Doch das greift zu kurz. Die Autoren weisen selbst auf den erwartbaren Rückgang der heutigen Kernkraftwerksleistung hin und auf die Lücken, die dadurch im Winter entstehen.
Gleichzeitig bleibt offen, wie diese Lücke geschlossen werden soll. Die Antwort des Berichts: nicht mit Kernenergie. Doch womit dann? Gaskraftwerke? Neue Importe?
Während bei der Kernenergie jeder Franken auf die Goldwaage gelegt wird, bleibt bei anderen Technologien vieles im Nebel.

Es fehlen belastbare Systemvergleiche: Was kostet ein vollständig auf Erneuerbare und Speicher gestütztes System inklusive Netzausbau, Speicher und Rückversicherung im Winter wirklich?
Welche Technologien erhalten staatliche Unterstützung? Und in welchem Umfang? Dass Kernkraftwerke möglicherweise auch in der Schweiz auf Investitionsabsicherungen angewiesen wären, wird kritisch betont.
Dass aber heute fast keine Energieinfrastruktur ohne Subventionen gebaut wird – von Solarstrom bis hin zu Wasserstoffprojekten – bleibt unerwähnt.
Genauso wird der oft kritisierte lange Zeithorizont für neue Kernkraftwerke nicht infrage gestellt. Dabei ist es genau dieser Planungshorizont, der Anlass für eine ernsthafte Reform der Verfahren sein müsste.
Internationaler Reaktorboom
Längst arbeiten andere Länder wie Frankreich, Grossbritannien oder Schweden an der Vereinfachung und Beschleunigung von Genehmigungsverfahren für neue Kernkraftwerke.
Dies bleibt im Bericht unter dem Radar. Wie auch der internationale Reaktorboom, der nicht nur von China, sondern auch zum Beispiel von Kanada, Polen oder Schweden vorangetrieben wird.
Die Schweiz verdient eine sachliche, technologieoffene Debatte. Dazu gehört auch, den wachsenden Strombedarf ernst zu nehmen – und ihn nicht einfach zu ignorieren.
Wer 2040 und darüber hinaus eine sichere, saubere und stabile Stromversorgung will, muss heute dafür die Weichen stellen.
Und das heisst: alle Optionen prüfen. Auch die Kernenergie.
Zur Person: Hans-Ulrich Bigler ist Ökonom und war von 2008 bis 2023 Direktor des Schweizerischen Gewerbeverbands (SGV). Er ist im Vorstand mehrerer Verbände und sass von 2015 bis 2019 für die FDP im Nationalrat. Heute ist Bigler SVP-Mitglied.
Interessenbindung: Bigler ist Präsident des Nuklearforums Schweiz.