Zürich: Leerkündigungswelle trifft Langstrassenquartier
In der Sihlhallenstrasse im Zürcher Kreis 4 haben über 30 Mietparteien die Kündigung erhalten.

Das Wichtigste in Kürze
- In der Zürcher Sihlhallenstrasse wurde vielen Mietenden gekündigt.
- Über 30 Mietparteien müssen ausziehen.
Eingepfercht zwischen dem Rothaus-Gebäude, der Bar Rossi und der Amazonia-Bar stehen zwei blau angestrichene Liegenschaften, die wohl sehr modern aussahen, als sie in den 60er-Jahren gebaut wurden.
Gut 30 Mietparteien wohnen dort, teils schon seit Jahrzehnten, doch bis Ende September müssen alle Anwohnenden der Sihlhallenstrasse 5 und 7 raus – einzig der Denner im Erdgeschoss darf bleiben.
Eine weitere Leerkündigung, ein weiterer Sanierungswunsch und ein schwerer Einschnitt für die Anwohnenden. Sie werden aus der vertrauten Wohnung, und in vielen Fällen aus dem Quartier verdrängt und dürften kaum wieder so einen tiefen Mietzins finden.
Wohnhaus voller Härtefälle
Auch Louisa, die nur anonym über ihre Situation sprechen möchte, wohnt mit ihrem Partner und der gemeinsamen Tochter schon seit 14 Jahren hier, für die 65 Quadratmeter grosse Wohnung zahlen sie knapp 1400 Franken monatlich.
Die beiden sind freischaffend als Künstler tätig und haben ein Atelier in der Nähe, die Tochter geht im Kreis 4 zur Schule.
Aufgrund des tiefen Einkommens, der Quartierverbundenheit und weil für die kleine Tochter bei einem Umzug in einen anderen Kreis auch ein Schulwechsel bevorstünde, konnte die Familie verschiedene Härtefälle geltend machen, und bekam vor der Schlichtungsbehörde sogar recht.
Doch der Anwalt der Verwaltung Taxalis Treuhand AG – Louisa beschreibt ihn als «unangenehm und einschüchternd» – zog den Fall ans Mietgericht weiter.
Eigentümerschaft lockt mit Geld
Louisa und ihr Partner sind zwar inzwischen dem Mieter-Verband beigetreten, jedoch zu kurzfristig, um einen Anwalt gestellt zu bekommen. Da das Geld für eine Rechtsvertretung knapp ist, gehen sie auf den Deal der Eigentümer ein: Gegen eine Entschädigung verpflichteten sie sich, bis Ende September auszuziehen.
Es ist eine immer wiederkehrende Masche: Mietende mit Geld locken, damit sie den Rechtsstreit nicht weiterziehen und die Sanierung pünktlich starten kann.
Auch bei einer Leerkündigung an der Brahmsstrasse und im andauernden Fall der Siedlung Heuried-Küngenmatt flossen vier- bis fünfstellige Beträge an Mietende, die im Gegenzug einwilligten, zum geplanten Zeitpunkt auszuziehen.
Doch um eine Fristerstreckung zu erkämpfen, hilft es, wenn die Mieterschaft als Team oder Interessengemeinschaft agiert, mehrere Gesuche einreicht und – wie zuletzt im Fall der Sugus-Häuser – in grosser Zahl im Haus wohnen bleibt. Doch für jeden einzelnen ist die Versuchung gross, das sinkende Schiff zu verlassen, wenn sich eine Anschlusslösung bietet.

Im Fall der Sihlhallenstrasse komme dazu, dass dort viele ältere Menschen lebten, teils schon seit Jahrzehnten. «Einigen von ihnen bleibt nur der Weg ins Altersheim», erzählt Louisa. Eine ältere Bewohnerin habe ihr gesagt, dass sie sich wünsche, noch vor dem Umzugstermin zu sterben.
Gemäss dem Eidgenössischen Gebäude- und Wohnungsregister (GWR) sind die beiden Liegenschaften 1967 fertiggestellt worden und damit keine 60 Jahre alt, Besitzerin der Wohnhäuser ist die Dimag Dreispitz Immobilien Meilen AG.

Online heisst es, eine Gebäudemodernisierung mit Aussenrenovation und Umbau im Inneren sei geplant, ebenso wie eine Solaranlage.
Auf Anfrage schreibt die Verwaltung Taxalis Treuhand AG, «dass wir mit allen Bewohnenden ein gutes Einvernehmen pflegen und pflegten und sämtliche Mietende bereits neue Wohnungen beziehen konnten bzw. beziehen können».
Nachweislich falsch
Doch wie das Beispiel von Louisas Familie zeigt, ist das nachweislich falsch. Zum Zeitpunkt dieser Aussage sind sie noch immer auf Wohnungssuche. Sogar nach einer städtischen Notunterkunft haben sie sich erkundigt. «Doch auch die kosten 2000 bis 2500 Franken pro Monat», sagt Louisa.
Eine Sprecherin der zuständigen Sozialen Einrichtungen und Betriebe der Stadt Zürich erklärt auf Anfrage: «Wir sind für die Menschen da, die bis zum Schluss nichts finden, sozusagen das letzte Auffangnetz», schreibt sie auf Anfrage. Voraussetzungen für eine Übergangswohnung für Familien sei dabei ein Wohnsitz in der Stadt Zürich seit mehr als zwei Jahren sowie ein Betreuungsbedarf.
Die Sprecherin betont: «Nur wohnen ohne Betreuung kann das Sozialdepartement nicht anbieten; das Wohnangebot ist immer befristet und von Betreuung durch Sozialarbeitende begleitet».
Für eine 2,5 bis 3,5-Zimmer-Wohnung würde eine Familie inklusive Nebenkosten und je nach Betreuungsintensität und Wohnungsgrösse zwischen 1700 und 2250 Franken bezahlen. Wenn die Finanzen der Familie nicht ausreichen, kann sie wirtschaftliche Sozialhilfe beantragen.

Eine Rückkehr der bisherigen Mietenden in die sanierten Wohnungen an der Sihlhallenstrasse würde man «selbstverständlich sehr begrüssen», schreibt die Verwaltung weiter.
Doch die Frage, wie viel die Mieten dereinst betragen werden, lassen die Verantwortlichen unbeantwortet. 2024 kostete eine private 3-Zimmer-Wohnung im Kreis 4 im Median 1980 Franken monatlich, eine gemeinnützige 3-Zimmer-Wohnung pro Monat 980 Franken.
Eine neu ausgeschriebene 3-Zimmer-Wohnung mit 65 Quadratmetern kostet gemäss einem Marktbericht von CSL Immobilien hingegen durchschnittlich 2600 Franken im Monat.
Die Langstrasse hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert und wird dies auch weiterhin tun. Seit Ende 2023 ist der Autoverkehr beruhigt, an der Piazza Cella prangt inzwischen eine grosse Leerstelle.
Wo einst die Piranha Bar und der Club Zukunft zu Hause waren, sollen Wohnungen und ein Detailhändler einziehen. Und die kürzlich bekannt gewordene Leerkündigung an der Josefstrasse 137 ist ein herber Schlag für die tamilische Community im Kreis 5.
Stadt kann bloss selbst Boden kaufen
Die Stadt kann auf diese Entwicklungen kaum Einfluss nehmen. Anna Schindler, Direktorin der Stadtentwicklung Zürich, stellt klar: «Wenn private Eigentümer im Einklang mit der Bau- und Zonenordnung umbauen wollen, können wir dagegen nichts unternehmen.»
In den Richtlinien der Stadt zum sozialverträglichen Bauen heisst es zwar: «Die Stadt Zürich setzt sich dafür ein, Verdrängungsrisiken durch bauliche Erneuerungen zu minimieren und fördert eine sozialverträgliche Innenentwicklung» – doch rechtliche Handhabe gegenüber privaten Bauherrn gebe es nicht.
«Bei grösseren Bauprojekten kann die Stadt beratend Einfluss nehmen», sagt sie, und fügt an: «Auf das Langstrasse-Quartier werden in den kommenden zehn Jahren aber kaum mehr so grosse Bauprojekte zukommen, wie es etwa eine Europaallee war, sondern eher auf Schwamendingen oder Altstetten.»
Auch das Hochbaudepartement bestätigt auf Anfrage: «Bei Arealüberbauungen und Hochhäusern bringen sich die Stadtentwicklung und das Amt für Städtebau zu sozialräumlichen Aspekten ein und erstellen einen Bericht.»
Quadratmeterpreis nur in Hongkong höher
Ein Hebel, den die öffentliche Hand laut Schindler hat, um möglichst sozialverträgliche Erneuerungen umzusetzen, ist es, selbst Boden zu kaufen und darauf preisgünstige Wohnungen anzubieten.
«Aber so günstig ist dieser Boden leider nicht», fügt sie an. Tatsächlich ist der Quadratmeterpreis für städtische Wohnungen weltweit nur in Hongkong noch knapp höher als in Zürich, wie der Bericht «Mapping the world’s prices» von Ende Juni aufzeigt. Im Zürcher Stadtzentrum beziffert ihn der Bericht auf fast 20'000 Franken.
Gleichzeitig ist die Fluktuation auf dem Wohnungsmarkt gemäss Schindler noch immer hoch: «30 Prozent der Wohnungen in Zürich wechseln jährlich die Mietenden. Etwa 10 Prozent der Mietenden ziehen innerhalb von Zürich um, 10 Prozent ziehen zu, und 10 Prozent ziehen weg», sagt sie.
Auch die über 30 Mietparteien der Sihlhallenstrasse 5 und 7 werden bald in dieser Statistik auftauchen.
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Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei «Tsüri.ch» erschienen. Autor Dominik Fischer ist Redaktor beim Zürcher Stadtmagazin.