«Sehr junge Frau»: Freier hat nach Bordellbesuch schlechtes Gewissen
Ein Freier zweifelt nach dem Bordellbesuch: War die Frau freiwillig dort? Solche Meldungen gibt es jedes Jahr bis zu 20-mal – und sind schwer nachzuverfolgen.

Das Wichtigste in Kürze
- Einen Freier plagen nach einem Bordellbesuch Gewissensbisse wegen einer jungen Frau.
- Er meldet den Fall daraufhin bei der Meldestelle gegen Zwangsprostitution.
- Weil Prostituierte ständig den Ort wechseln, gestaltet sich die Suche schwierig.
- Eine Expertin verweist zudem darauf, dass Zwang nicht immer zu erkennen sei.
- Ein Bordellbetreiber erzählt bei Nau.ch, wie er gegen Zwangsprostitution kämpft.
Nach einem Bordellbesuch trägt ein Freier eine Woche lang ein ungutes Gefühl mit sich. In einem Etablissement im Kanton Bern lernt er nämlich eine «sehr junge Frau» kennen.
Die Prostituierte Maria* spricht nur Ungarisch und wirkt verängstigt. Der Gedanke an sie bleibt dem Freier auch Tage danach.
Er fragt sich: Ist sie wirklich freiwillig dort? Und ist die Frau überhaupt volljährig?
«Nach einigen schlaflosen Nächten» meldet er sich beim Verein «ACT212». Der Verein betreibt eine nationale anonyme Meldestelle gegen Menschenhandel und Ausbeutung.
Die Verdachts-Meldung wird an die aufsuchende Rotlichtmilieu-Arbeit weitergegeben. Dieses versucht, Maria aufzuspüren. Doch vergebens.
Wochen später meldet sich der Freier erneut. Auf einer Erotikwebsite hat er Maria wiedergefunden.
Prostituierte wechseln ständig Ort – Freier wollen «frisches Fleisch»
«Sie heisst jetzt anders und ist nicht mehr am selben Ort», schreibt er. «Auch sieht sie nicht mehr zu 100 Prozent gleich aus. Aber der Text und das Alter, die Grösse, die Sprache etc. stimmen alle überein.»
Doch inzwischen ist Maria auch auf dieser Website verschwunden. Ob sie zur Prostitution gezwungen wurde oder nicht, bleibt unklar – und genau solche Fälle sind keine Seltenheit.
«Oft lassen sich solche Hinweise nicht mehr überprüfen», sagt Nathalie Guex, Geschäftsleiterin bei «ACT212», zu Nau.ch: «Personen in der Prostitution bleiben oft nur kurze Zeit an einem Ort – in der Regel ein bis zwei Wochen.»
«Zum Teil entscheiden die Betroffenen selbst, den Ort zu wechseln. Oder sie werden von Personen, die Macht über sie ausüben, weitergeschoben», sagt sie.
«Der Grund dafür liegt häufig im Wunsch der Freier nach ständig neuen Personen und Angeboten. Stichwort: ‹frisches Fleisch›.»
Das mache die Arbeit bei Eingang von Hinweisen schwer.
Bis zu 20 Freier-Meldungen jährlich
Grundsätzlich seien solche Hinweise von Freiern aber hilfreich. «Insbesondere dann, wenn wir über zum Teil anonymisierte E-Mail-Adressen noch Nachfragen stellen können.»
Seit dem Beginn der Nationalen Meldestelle im Jahr 2015 sind fast 90 Verdachts-Meldungen von Freiern eingegangen. Jedes Jahr verzeichnet «ACT212» zwischen 15 und 20 Meldungen von Freiern. «Da sie bei uns anonym melden können, ist die Hemmschwelle nicht gross.»

Melden sich Betroffene nicht von selbst, gelte es zunächst herauszufinden, welche Unterstützung sie tatsächlich wünschen.
«Wir gehen nach dem Prinzip der Opferzentriertheit vor: Jede ernstzunehmende Verdachtsmeldung wird von uns sorgfältig geprüft. Je nach Einschätzung wird sie an die passende Stelle weitergeleitet.»
Spezialisierte Fachstellen kümmern sich dann darum, die Person kennenzulernen.
«Unsere Zusammenarbeit mit den spezialisierten Behörden zielt darauf ab, das Umfeld der Sexarbeitenden zu überwachen. Nicht um ihre Bewilligungen oder Tätigkeiten zu kontrollieren», betont Guex.
«Gemeinsam sorgen wir dafür, dass sie in einem sicheren Rahmen arbeiten und vor Zwang und Ausbeutung geschützt werden können.»

Guex räumt mit dem «Mythos» auf, dass Probleme nur auf dem Strassenstrich bestünden.
«Die Arbeitsbedingungen auf dem Strassenstrich sind zwar zweifellos prekärer als in Bordellen. In einem Bordell haben Sexarbeitende zumindest ein wenig den Rückhalt anderer Kolleginnen. Sie können Freier notfalls abweisen oder vor die Tür stellen.»
Grenzen zwischen «unfreiwillig» und «Zwang» sind fliessend
Aber: «Zwang und Ausbeutung können überall vorkommen. Selbst in kontrollierten Betrieben kann es sein, dass Zuhälterinnen und Zuhälter im Hintergrund die Fäden ziehen», mahnt sie.
«Die Betroffenen schweigen aus Angst oder Erpressung, obwohl der Betrieb an sich bekannt ist und überwacht wird», erklärt sie. In illegalen Bordellen, Mietwohnungen oder privaten Wohnungen könnten Minderjährige aber noch besser versteckt werden.
Eine weitere Herausforderung sei die Grauzone zwischen «unfreiwillig» und «Zwang». «Viele Menschen in der Prostitution sind nicht gehandelt, aber durch ihre prekäre Situation extrem verletzlich», erklärt Guex.

«Sie brauchen dringend Geld, sehen keine Alternativen oder wissen nicht, wie sie schneller an Einkommen kommen könnten. Das macht sie anfällig für Ausbeutung – auch wenn sie formal nicht direkt gezwungen werden.»
Wie blicken die Bordelle auf die Problematik? Nau.ch hat mit einem Bordellbetreiber gesprochen, der anonym bleiben möchte. Wir nennen ihn Magnus*.
Er betont, sein Etablissement verfolge den Anspruch, ein «transparentes, faires und sauberes Angebot» zu bieten. Sowohl für die dort arbeitenden Frauen als auch für die Kunden.
Betreiber: «In seriösen Betrieben gibt es keinen Zwang»
«Wir arbeiten strikt legal, alle Frauen sind über 18 Jahre alt und haben eine gültige Arbeitsbewilligung», so Magnus. Personen aus dem EU-Raum dürfen hier maximal 90 Tage pro Jahr arbeiten – am Stück oder aufgeteilt in kürzere Einsätze.
IDs und Pässe würden immer kontrolliert, ehe die Frauen ihre Dienste anbieten. Auch Hygienestandards würden eingehalten und kontrolliert. Sex ohne Kondom sei Tabu.
Er betont: «In seriösen Betrieben gibt es von Seiten Betreiber keinen Zwang. Sonst wäre der Betrieb nicht seriös!»
Doch: Ob Zwang oder Ausbeutung besteht, sei oft nicht einfach zu beurteilen.
«Viele Frauen aus Osteuropa, aber auch aus südlichen Ländern, haben einen Boyfriend, einen Partner oder einen Ehemann. Die Grenzen zwischen Zuhälterei und Schicksalsgemeinschaft sind dabei fliessend.»
Allerdings würden diese Frauen nicht zugegeben, wenn sie ausgebeutet werden – oder wollten es nicht wahrhaben. «Das geht bis zur Verleugnung und zum Ignorieren offensichtlicher Fakten. Da können wir relativ wenig Einfluss nehmen.»
Anders verhalte es sich, wenn eine Frau von jemanden gegen Gebühr vermittelt werde. Das sei sowohl moralisch und rechtlich ein «No-Go» und auch oft schlicht Abzocke.
Und: «Wer immer die Frauen vorbeibringt, darf die Koffer reintragen, danach darf er das Haus nicht mehr betreten. Geld erhält die Frau immer vom Kunden direkt und rechnet mit uns ab.»
Prostituierte werden wütend, wenn man sie auf Geld anspricht
Magnus ergänzt: «Oftmals schicken die Frauen Geld nach Hause. Wenn wir das Gefühl haben, dass es nicht für die Familie ist, dann versuchen wir, mit der Frau zu reden. Das tun wir auch, wenn sie das ganze Geld verjubelt.»
Dabei arbeite man auch mit den entsprechenden Organisationen zusammen. «Das wollen die Frauen aber oft nicht und werden in der Tendenz wütend, weil wir uns einmischen.»
Freier haben verschiedene Möglichkeiten, Verdachtsfälle zu melden oder Unterstützung zu suchen.

«Die Kunden können sicher jederzeit an die Rezeption wenden. Sie spricht nach Möglichkeit auch die Sprache der Frauen und ist die Vertrauensperson der Mädchen vor Ort.» Im Zweifelsfall könne man sich auch an die Polizei wenden.
Abschliessend ist es dem Bordellbetreiber wichtig zu betonen, dass es neben unseriösen Erotikbetrieben auch viele seriöse gibt.
«Seriöse, legale und korrekte Betreiber erfüllen alle Auflagen, zahlen Steuern und behandeln Frauen fair. Aber man sollte einen Weg finden, die halblegalen und illegalen Betreiber auch zu kontrollieren und für ihre Versäumnisse zu büssen.»
«Missstände müssen konsequent bekämpft werden»
Problematisch sei vor allem der illegale oder halblegale Bereich: Pop-up-Bordelle und nicht angemeldete Studios wechseln häufig den Standort, sodass Missstände oft verborgen bleiben.
Seine Einschätzung zu diesen unseriösen und illegalen Angeboten: «Ich gehe davon aus, dass die Frauen in diesen Fällen nicht immer freiwillig arbeiten. Oftmals sehen sie auch nicht viel von dem Geld.»
Dazu komme: «In Einzelfällen habe ich von Frauen gehört, dass sie zu allen möglichen Praktiken gezwungen werden. Wenn der Kunde nicht zufrieden ist, werden sie auch schon mal geschlagen.»
Brauchst du Hilfe?
Bist du von Menschenhandel, Zwangsprostitution oder Ausbeutung betroffen oder hast du etwas beobachtet, das dir suspekt vorkommt? Dann melde dich bei der Nationalen Meldestelle ACT212 unter act212.ch oder 0840 212 212.
Als erste Anlaufstelle bietet sie vertrauliche Hilfe und Beratung für Betroffene und deren Angehörige. Sie stellt sicher, dass Menschen in Not schnell und unkompliziert Unterstützung finden können.
Magnus appelliert, die Branche differenziert zu betrachten und betont gleichzeitig: «Missstände, illegale Arbeit sowie Zwang müssen konsequent bekämpft werden. Eine unregulierte Prostitution wäre weder für Betreiber noch für die Gesellschaft wünschenswert.»
Zahl an Opfern von Menschenhandel nimmt zu
Ein Blick auf die Statistik der Schweizer Plattform gegen Menschenhandel «Platforme Traite» zeigt: Im vergangenen Jahr wurden in der Schweiz insgesamt 201 neue Opfer von Menschenhandel identifiziert. Dies ist eine leicht steigende Tendenz.
Drei Viertel davon waren Finta-Personen. Der Begriff umfasst neben Frauen, auch Intergeschlechtliche, Non-Binäre, Trans- und Agender-Personen.
Am häufigsten waren Personen aus Nigeria, Kolumbien und Ungarn betroffen. 114 Personen wurden zur sexuellen Ausbeutung gezwungen, 95 Betroffene in Form von Arbeitsausbeutung oder zu kriminellen Tätigkeiten missbraucht.
* Namen geändert