Kristina Nilsson ist Spezialärztin für Infektionskrankheiten am Spital Danderyd in Stockholm. Die Behandlung von Corona-Patienten verarbeitet sie mit Gedichten.
Kristina Nilsson Spital Schweden
Kristina Nilsson ist Spezialärztin für Infektionskrankheiten am Spital Danderyd in der schwedischen Hauptstadt Stockholm. Ihre Erlebnisse an der Corona-Front verarbeitet sie mit Gedichten. - zvg/Per Åstrand
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Das Wichtigste in Kürze

  • Schweden wurde von der ersten Welle des Coronavirus schwer getroffen.
  • Die Ärztin Kristina Nilsson gibt ihre Erfahrungen in Form von kurzen Gedichten wider.
  • Sie erklärt Nau.ch in einem Gastbeitrag ihre Motivation und präsentiert elf Gedichte.

Als die Pandemie begann, wurde mir sofort klar, dass ich ein rettendes Ventil brauchen werde. Ich hatte Angst davor, was auf mich zukommen werde, dass meine Patienten ausserhalb meiner Kontrolle sterben könnten, dass das Gesundheitswesen kollabieren werde, dass ich selber von jemandem Abschied nehmen müsste, der oder die mir nahe steht, oder dass ich ganz einfach die Fassung verlieren würde.

Es ist lange her, dass ich mich in meiner Rolle als Ärztin so unzulänglich fühlte wie in den vergangenen Monaten. Es ist schwer, die Patienten nicht heilen zu können.

Als Spezialistin für Infektionskrankheiten in Schweden ist man im Allgemeinen verwöhnt mit den Möglichkeiten, heilen und nicht bloss lindern zu können.

Kristina Nilsson Ärztin Schweden
«Es ist lange her, dass ich mich in meiner Rolle als Ärztin so unzulänglich fühlte wie in den vergangenen Monaten», schreibt Kristina Nilsson. - zvg/Per Åstrand

Nun ist die Heilung viel zu oft ausgeblieben, die Linderung war eine Herausforderung und das Trösten oft unmöglich, wenn die Schutzausrüstung und Einschränkungen im Weg standen, wenn die Angehörigen der Patienten ihnen nicht zur Seite stehen konnten, weil sie selber krank waren oder zu einer Risikogruppe gehörten.

Mein Ventil fand ich im Schreiben, über all das, was es jenseits aller Zahlen und Kurven, Richtlinien und Schlagzeilen gibt. Das Ziel war ein Gedicht pro Tag, als Ablenkung, als Trost, als eingekerbte Striche in einer Gefängnismauer.

Manchmal entstanden mehrere Gedichte, manchmal keine. Am Schluss wurde daraus eine Sammlung, ein Zeitdokument, eine Erinnerung an Gefühle und Phasen, durch die ich hindurchging. Diese Sammlung ist soeben als Buch in schwedischer Sprache erschienen. Hier lesen Sie daraus eine Auswahl von elf Gedichten auf Deutsch.

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1.

Das Virus hat sie beide eingefangen
Also liegen sie im selben Zimmer
Und die Betten stehen Fussende gegen Fussende

Am zwölften Tag geht es ihr besser
Ihm nicht
Sie bekommt Sauerstoff durch einen Plastikschlauch
Er hat auch einen
Der Ihrige wird entfernt
Als ihre Wangen Farbe bekommen haben
Seiner als er aufgehört hat zu atmen

Wie sein Bett weggerollt wird
Und sie Atemnot bekommt vor Trauer
Muss ich die Augen schliessen

«Trösten war oft unmöglich, wenn die Schutzausrüstung und Einschränkungen im Weg standen», so Nilsson. - zvg/Per Åstrand

2.

Ein Meer von Menschen
Und zu wenig Zeit zum Helfen
Sagen die
In weissen Kleidern und Visier

Ein Meer von Zeit
Und niemanden um sie zu teilen
Sagt sie die in Isolation sitzt
Ohne Schutz
Vor Einsamkeit

Das Arbeiten mit Schutzausrüstung ist für viele Ärzte eine grosse Herausforderung. - zvg/Per Åstrand

3.

Was schwer zu hören ist
Oder zu sagen
Wird doch leichter
Zu hören
Und zu sagen
Wenn man jemandem die Hand hält

Aber mit Handschuhen
Ist der Trost gar nicht derselbe

4.

Was glauben Sie Frau Doktor
Fragt sie mich
Komme ich an Ostern nach Hause?
Ihre Lippen sind blau
Und ich will nein antworten
Aber das ist so schwer durch das Visier
Darum sage ich: vielleicht

Schweden Coronavirus
In Schweden gab es trotz Coronavirus nie einen wirklichen Lockdown. Das Bild stammt aus dem April. - Keystone

5.

Draussen vor den Mauern des Epidemiespitals
Leuchtet das Licht des Frühlings
Es fühlt sich seltsam an
Dass die Birken bald grün sein werden

Ich fühle mich schuldig
Nach Hause zu gehen
In der Sonne

6.

Als die Welle kommt
Kann er nicht gerettet werden
Mit Rettungsring und Weste
Deshalb bekommt er keine

Er kann schwimmen
Sagt die Gattin
Mit Rettungsring und Weste
Weshalb bekommt er keine?

Ich weiss dass die Welle zu hoch ist
Und die Weste viel zu klein
Ziemlich selbstverständlich
Wenn es mir bloss erspart bliebe
Das laut zu sagen

7.

Wir sind gleich alt er und ich
Sein Körper ist stark
Stärker als meiner
Äusserlich

Wir sind gleich alt, er und ich
Sein Gesicht ist glatt
Glatter als meins
Weil er schläft
Und ruhig atmet

Mit Hilfe einer Maschine

Schweden Coronavirus
Die erste Welle des Coronavirus traf Schweden hart – auch im Herbst sind die Ärzte wieder hart gefordert. - zvg/Per Åstrand

8.

Sie nehmen Abschied von ihrem Lieben
Durch die Fensterscheibe
Die Steppjacken zittern
Wie sie in der Kälte weinen
Die Trauer hinterlässt
Handabdrücke auf dem Glas

Auch ein paar kleine
Auf Taillenhöhe

9.

Die Kollegen umarmen sich
Im Korridor ausserhalb der Atemnot
Wie zwei umgestürzte Birken
Die einander im Sturm auffingen
Halten das Gleichgewicht
Und weinen still
Über ihre Unzulänglichkeit
Und ihre Angst

Aber über die Angst reden sie wohl nicht
Das wäre egoistisch

10.

Die Frau fragt ob ihr Mann jetzt sterben wird
Ich antworte mit Worten die bekannt sind
Für mich aber nicht für sie
Und mitten in einem Satz bin ich plötzlich verloren
Weiss nicht mehr was ich sagte
Und auch nicht was ich sagen soll
Ich kann nur an ihre Tränen denken
Die in den Runzeln rinnen
Wie Rinnsale auf einem Kiesweg im Frühling

11.

In einem Dasein aus innerem und äusserem Chaos
Müssen wir in den Spitalkorridoren lachen
Um das Leben zurückzubringen
Und die Ordnung

Stell dir vor dass jemand uns jetzt hörte

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Für die Übersetzung der Gedichte verantwortlich ist der Schweizer Arzt Jean-Claude Vuille.

Jean-Claude Vuille
Der Schweizer Arzt Jean-Claude Vuille hat Kontakt mit Kristina Nilsson und übersetzte deren Gedichte mit ihrem Einverständnis. - zvg/Stadt Zürich

Er ist emeritierter Medizinprofessor der Universität Bern und arbeitete viele Jahre lang in Schweden.

Das schwedische Original erschien in der schwedischen Ärztezeitung «Läkartidningen» 28-32 2020: 924-27.

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