Nachlass von Plinio Martini geht an Schweizerisches Literaturarchiv
Der Autor Plinio Martini (1923-1979) gilt als Klassiker der Tessiner Literatur; er hat Romane, Gedichte, Erzählungen, Essays und Drehbücher verfasst. Seinen literarischen Nachlass hat nun das Schweizerische Literaturarchiv (SLA) erworben. Dort soll er zum 100. Geburtstag des Autors zugänglich gemacht werden.

Das Wichtigste in Kürze
- Martinis Nachlass umfasst sein gesamtes literarisches Schaffen, von seinen ersten Gedichten aus den 1950er Jahren bis zu seinen postum veröffentlichten Werken, wie das SLA am Dienstag mitteilte.
«Es handelt sich um einen Bestand von grosser Bedeutung für die italienischsprachige Kultur der Schweiz.»
Am Archiv will man nun den Nachlass erschliessen. Dadurch erhoffen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler neue Erkenntnisse zu Leben und Werk von Martini. Besonderen Aufschluss versprechen sie sich von den verschiedenen Fassungen seiner Werke. 2023, wenn Martinis 100. Geburtstag gefeiert wird, will das SLA den Nachlass zugänglich machen.
Bekannt wurde Martini über die Sprachgrenzen hinweg auch in der Deutschschweiz und in der Romandie. Zu seinen bekanntesten Werken zählen der Roman «Il fondo del sacco» (1970, dt.: «Nicht Anfang und nicht Ende: Roman einer Rückkehr», 1974) und «Requiem per zia Domenica» (1976, dt.: «Requiem für Tante Domenica», 1975). Inhaltlich vermittelte Martini seinen Leserinnen und Lesern die Welt der Bewohnerinnen und Bewohner in den Tessiner Bergtälern, deren von Mühsal geprägten Alltag.
Als Schriftsteller pflegte er in seinen Romanen und Erzählungen einen neorealistischen Stil. «Martinis innovativer stilistischer Ansatz und seine der Volkskultur verpflichtete Authentizität leisteten einen wichtigen Beitrag zur Erneuerung der erzählenden Literatur in der italienischsprachigen Schweiz», heisst es dazu seitens des SLA.
Martini kam im August 1923 in Cavergno im Valle Bavona als Sohn des Dorfbäckers zur Welt und wuchs mit sieben Brüdern in ärmlichen Verhältnissen auf. Er wurde Lehrer und unterrichtete in Cavergno und in Cevio.
Seinen eigentlichen Durchbruch als Schriftsteller schaffte er neun Jahre vor seinem Tod mit dem Migrationsroman «Nicht Anfang und nicht Ende»: «Wir waren eine Insel ausserhalb der Zeit, die letzte Hand voll Mehl auf dem Grunde des Sackes» lässt Martini seinen Ich-Erzähler Gori dort sagen. «Schon damals begannen die Sommergäste ins Val Bavona und bis auf die Alpweiden vorzudringen, um uns zu besichtigen, als ob wir Rothäute wären. Sie fotografierten uns sogar und wir Trottel stellten uns mit der gerla auf dem Rücken in Positur. Weiss Gott, in welchen Häusern unsere Gesichter schliesslich endeten, um luxusübersättigte Menschen zu amüsieren.»
In «Requiem für Tante Domenica» ruft sich die Hauptperson während einer Beerdigung die bäuerliche, von strenger katholischer Moral geprägte Vergangenheit in Erinnerung. Im Zentrum steht seine grosse Liebe Giovanna «auf einem der grossen Felsblöcke, die man nur im Valbavona antrifft. In alten Zeiten hat der Hunger die Menschen bewogen, korbweise Erde hinaufzuschleppen und Miniaturwiesen anzulegen, die gerade ein paar Handvoll sonnverbranntes Heu lieferten. Dort oben stand Giovanna und rief ihm zu er solle auf sie warten».
Martini selbst erkrankte in den 1960er Jahren an einem Hirntumor, an welchem er nach jahrelangem Leiden 1979 im Alter von 56 Jahren starb. Seine Texte entzaubern das Tessin von allen Sonnenstuben- und Zoccoli-Klischees; sie sind geprägt von tiefer Melancholie, von verhaltenem Zorn und Trauer. Auch als öffentliche Person bezog er kritisch Position zur Entwicklung der Tessiner Täler.
Das SLA gehört zur Schweizerischen Nationalbibliothek. Es wurde 1991 auf Initiative von Friedrich Dürrenmatt gegründet und betreut seither zahlreiche literarische Nachlässe von Autorinnen und Autoren zumeist aus dem 20. und 21. Jahrhundert. Das Werk von Martini hat es von der Familie des Autors übernommen.