Es gehörte früher bei der Kindererziehung dazu wie Schuhebinden und Händewaschen: das Uhrzifferblatt lesen. Inzwischen ist das anders.
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Immer mehr Schweizerinnen und Schweizer können die analoge Uhr nicht lesen. Eine Lehrerin sieht den Lehrplan 21 als Grund. (Symbolbild) - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Immer mehr junge Schweizerinnen und Schweizer können analoge Uhren nicht lesen.
  • Das Zifferblatt verschwindet langsam aus dem Alltag – viele sehen die Zeit nur digital.
  • Eine Lehrerin beobachtet, dass einige Teenager nicht einmal die Monate kennen.
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«Ich habe zwar das Zifferblatt als Kind gelernt, doch ich habe heute Mühe, es zu lesen. Ich trage nämlich fast nie Uhren ohne digitale Anzeige», sagt der Zürcher Philipp M.* (24) zu Nau.ch.

Deshalb habe er es mit der Zeit etwas verlernt. «Ich verwechsle immer die drei und die vier oder die neun und die zehn», gibt er zu. «Vor allem bei Zifferblättern ohne Zahlen, das gibt es ja häufig.»

Schwierig seien besonders die Stunden – die Minuten könne er gut ablesen. Im Alltag sei das meistens aber kein Problem: «Ich sehe ohnehin fast nur digitale Zeitanzeigen», erklärt M.

«Es ist mir auch noch nie passiert, dass ich ausgelacht wurde, weil ich Mühe mit dem Uhrenlesen habe. Aber es ärgert mich natürlich selbst, wenn ich mich wieder einmal in der Stunde irre.»

«Digitale Uhr setzt sich durch»

Die Zuger Lehrerin Diana Stadelmann sagt zu Nau.ch: «Ich bin seit 30 Jahren Lehrerin und kann bestätigen, dass immer mehr Kinder und Jugendliche Mühe mit der Zeit haben.»

Ein Grund: «Die digitale Uhr setzt sich überall durch, viele sehen das Zifferblatt im Alltag kaum noch.» Das bestätigt auch die oberste Lehrerin der Schweiz, Dagmar Rösler.

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Eigentlich sieht der Lehrplan 21 vor, dass Kinder sowohl die digitale als auch die analoge Uhr lernen, betont Lehrerin Dagmar Rösler. (Symbolbild)
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Lehrerin Diana Stadelmann entgegnet: «Der Lehrplan 21 sieht viel mehr zusätzlichen Stoff vor als früher. Also muss man Prioritäten setzen – und da kommt die Uhr häufig zu kurz.» (Symbolbild)
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Laut Stadelmann können einige in der Oberstufe nicht einmal die Monate – wissen also beispielsweise nicht, dass der September der neunte ist. (Symbolbild)

«Das kann eine Erklärung dafür sein, dass die analoge Uhrzeit nicht mehr so gut gelesen werden kann», sagt sie. «Tatsächlich sieht man ja auch nicht mehr so viele analoge Zifferblätter, vielleicht noch die Kirchen-, oder Bahnhofsuhr.» Es gebe also weniger «Übungsmöglichkeiten». Rösler betont aber, dass der Lehrplan 21 vorsehe, den Kindern sowohl die digitale als auch die analoge Uhr beizubringen.

Stadelmann dagegen sieht genau diesen als weiteren Grund. «Man hat heute als Lehrperson viel weniger Zeit dafür, den Kindern die Uhr beizubringen.» Denn: «Der Lehrplan 21 sieht viel mehr zusätzlichen Stoff vor als früher. Also muss man Prioritäten setzen – und da kommt die Uhr häufig zu kurz.»

Kinder können wegen Lehrplan 21 Uhrzeit nur auf Englisch

Hinzu komme, dass die Kids ab der dritten Klasse Englisch lernen müssten. «Hier werden die Uhrzeiten sehr intensiv gelernt. Das sorgt dann bei Kindern, die schon Mühe mit der Zeit haben, für noch mehr Verwirrung.»

Schliesslich sage man auf Englisch nicht «halb zwei», sondern «halb nach eins». «Manche Kinder können die Uhrzeiten dann auf Englisch, aber nicht auf Deutsch.»

Die Folgen seien Teenager, die nicht einmal die Monate kennen, wie Stadelmann erzählt. «Das hat mich schockiert. Kürzlich habe ich mit einem 17-Jährigen gesprochen, der nicht wusste, dass der September der neunte Monat ist.»

Haben Sie Mühe, Uhrzifferblätter zu lesen?

Was sie auch häufiger erlebe: «Die Kinder kennen ihre eigene Adresse oder die Telefonnummer der Eltern nicht. Früher war es klar, dass man das ungefähr ab der zweiten Klasse kann.»

Ob es nun für die Kinder wichtig sei, die analoge Uhr noch lesen zu können, findet Stadelmann schwer zu sagen. «Das ist die grosse Frage. Analoge Uhren sind ja tatsächlich seltener geworden.»

Früher ohne Handy musste man die Uhrzeit kennen, damit man zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, sagt sie. «Heute wird alles kurzfristig per SMS oder Telefon abgemacht.» Auch für den ÖV gebe es eine Fahrplan-App – dazu brauche es keine Uhr mehr.

Rösler dagegen findet: «Man sollte bei beiden Lesarten einigermassen sattelfest sein.»

*Name der Redaktion bekannt

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