Experten uneinig: Wie sinnvoll sind präventive Wolfsabschüsse?

Keystone-SDA
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Chur,

Beim Thema Wolfsabschüsse scheiden sich die Geister. Experteneinschätzungen zu Sinn und Unsinn der Dezimierung gehen weit auseinander.

Wolf guckt in Kamera
Das Thema «Wolf» erregt weiterhin die Gemüter. (Symbolbild) - keystone

Nirgends sonst in der Schweiz sind so viele Wölfe getötet worden wie in Graubünden. Dennoch gab es diesen Sommer deutlich mehr Nutztierrisse als im vergangenen Jahr. Experten sind sich uneinig, was die Abschüsse wirklich bringen.

«Die Situation wäre ohne die Wolfsabschüsse noch viel schlimmer. Deshalb ist es auch wichtig, dass die Jagdverordnung voll genutzt wird», ist sich der Präsident des Bündner Bauernverbandes, Thomas Roffler (SVP) sicher.

Für die Präsidentin des Vereins CHWolf, Christina Steiner, ist hingegen klar, dass Graubünden die neue Jagdverordnung «bis aufs Äusserste ausnutzt» und auch Tiere in völlig unauffälligen Rudeln tötet.

Parlament erlaubt präventive Abschüsse

Zu den Fakten: Während der zulässigen Regulierungsphase von September bis Januar 2024/2025 tötete Graubünden 48 Wölfe. Ende August 2024 zählten die Behörden 142 Nutztierrisse. Ein Jahr später waren es zum gleichen Zeitpunkt 167.

Für die nun angelaufene Regulierungsphase reichte Graubünden wiederum mit Abstand am meisten Abschussgesuche beim Bundesamt für Umwelt (Bafu) ein. Jungtiere in 17 Rudeln sollen geschossen werden – ein Rudel wollen die Behörden ganz auslöschen. Zum Vergleich: Der Kanton Wallis möchte bei fünf Rudeln eingreifen.

Während der Regulierungsphase 2024/25 wurden hier 34 Wölfe erlegt. Das Parlament ermöglichte den präventiven Abschuss von Wölfen, also noch bevor sie Nutztiere gerissen haben, mit der Revision des Jagdgesetzes im Dezember 2022.

Hunderte Nutztierrisse

In diesem Jahr kam es in Graubünden alleine zu 517 Nutztierrissen. Dies sei «abartig» gewesen, so Roffler. Gäbe es die präventiven Abschüsse nicht, wäre diese Zahl heuer wohl übertroffen worden, ist er sich sicher.

Ein besonderer Fall zeigte sich diesen Sommer im Unterengadin. Dort hatten die Behörden im vergangenen Jahr trotz einer Petition und unter Protest das teilweise im Nationalpark ansässige Fuorn-Rudel erlegt.

Es wurde für zwei Angriffe auf Rinder verantwortlich gemacht. Das Rudel war tot, und plötzlich kam es im Tal zu unzähligen Schafsrissen.

Neue Herausforderungen

Erst Anfang September dieses Jahres bestätigte das zuständige kantonale Amt ein neues Rudel. Sie gaben ihm den Namen «Sinestra». Zuvor sprachen Experten von einem schadenstiftenden Wolfspaar.

Das vorherige Rudel habe mehr Ruhe gebracht, sagte Nationalparkdirektor Ruedi Haller im Gespräch mit Keystone-SDA. Im Sommer 2024 seien ausser den beiden getöteten Rindern keine weiteren Nutztierrisse verzeichnet worden.

Die Auslöschung eines ganzen Rudels würde gar Platz machen für möglicherweise problematischere Einzelwölfe, bestätigte auch Steiner von CHWolf. Einzelwölfe seien viel mehr auf einfache Beute angewiesen. Ein ungeschütztes oder ungenügend geschütztes Schaf zu reissen sei für einen Wolf alleine viel einfacher als einen Hirsch zu töten.

«Keine Garantie für Sicherheit»

Dem pflichtet Roffler teilweise bei. Das Wolfspaar habe sich im Sommer «höchstproblematisch» verhalten. Es mache ihn aber traurig und es sei unverständlich, dass nicht schneller eingegriffen werden könne.

Das BAFU hat ein Gesuch, das Sinestra-Rudel teilweise zu erlegen, noch nicht bewilligt. CHWolf verweist auf eine Studie aus Lettland. Demnach sei eine wahllose Dezimierung von Rudeln keine Lösung für eine sichere Nutztierhaltung.

Der Herdenschutz sei hier die klar bessere Wahl – sofern er seriös und konsequent umgesetzt werde, so Steiner. Ihre Organisation unterstützt dabei Landwirtschaftsbetriebe seit einigen Jahren. Heuer half CHWolf auf rund 30 Alpen mit.

«Wir brauchen beides»

«Es geht nichts über Herdenschutz», sagte auch Haller. Er findet aber eine gewisse Anzahl Abschüsse ebenso wichtig. Zu glauben, man könne mit Wolfsabschüssen den Herdenschutz umgehen, funktioniere aber nicht.

«Wir brauchen beides. In welchem Mass, müssen wir jetzt noch herausfinden», sagte er zu Keystone-SDA. In der Schweiz fehle es hierzu noch an langjährigen Erfahrungswerten.

Anderer Meinung ist hier der Bauernverbands-Präsident Roffler. Ein seriöser Herdenschutz sei so aufwändig, dass immer mehr Älplerinnen und Älpler dies nicht mehr auf sich nehmen wollen, wenn der Wolf dann trotzdem Schafe reisst.

Bauernvertreter sieht Alpwirtschaft gefährdet

Langfristig sei so die Alpwirtschaft gefährdet. «Dazu gehören nicht nur die Alpprodukte, sondern auch die Landschaftspflege und die Aufrechterhaltung der Biodiversität», so Roffler. All das zusammen sei definitiv wichtiger als der Wolf.

Er möchte, wenn die Abschussbewilligungen beim Bund für ihn unbefriedigend ausfallen, noch weitergehen und plant zusammen mit der SVP-Fraktion im Bündner Grossen Rat eventuell schon in der kommenden Oktobersession zwei Vorstösse einzureichen.

Einer soll darauf abzielen, die Jägerschaft mehr in die Wolfsjagd miteinzubeziehen. Aktuell dürfen die Jägerinnen und Jäger nach einem Infoabend während der Hochjagd auf Wölfe schiessen. Er will dies auf die Nieder-, Sonder- und Passjagd ausweiten.

Mehr Jagd oder mehr Massnahmen?

Der zweite Vorstoss soll die Wolfsjagd an sich verlängern. Letztes Jahr wurden nicht alle bewilligten Abschüsse vollzogen. 67 Wölfe hättet getötet werden dürfen, 48 wurden schliesslich erlegt.

Als Grund nannten die Wildhüter, dass es mit der Zeit immer schwieriger werde, die zum Abschuss bewilligten Jungtiere von erwachsenen Wölfen zu unterscheiden. Würde nun die Wolfsjagd schon im August statt im September starten, würde dies die Wildhüter in dem Punkt entlasten, ist sich Roffler sicher.

Diese Abschusspolitik sei jedoch der falsche Weg, so Steiner. Es brauche Aufklärungsarbeit, Herdenschutz und bessere Arbeitsbedingungen für das Alppersonal. Ihrer Meinung nach sollen nur die Wölfe erlegt werden dürfen, die trotz konsequentem Herdenschutz Nutztiere reissen.

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