Erst seit hundert Jahren dürfen Autos durch Graubünden fahren
Vor 100 Jahren fiel das Autoverbot in Graubünden, dem letzten Kanton, der den motorisierten Verkehr zuliess.

Am 21. Juni vor hundert Jahren ist in Graubünden das Autoverbot gefallen. Es war der letzte Kanton, der den motorisierten Verkehr zuliess. Zuvor wehrten sich die Bürgerinnen und Bürger des Bergkantons 25 Jahre lang vehement gegen die «stinkenden und lärmenden Ungetüme». Das Auto war lange ein Feindbild der Bündnerinnen und Bündner.
«So zu reisen ist doch kein Vergnügen. Es riecht nach Benzin, Schmieröl und ein wenig nach Protzenhaftigkeit», empörte sich das «Bündner Tagblatt» im Jahr 1900. Den Bergkanton prägten damals enge Schotterstrassen – perfekt für Kutschen, aber nicht für Autos.
So kam es, dass der erste Bündner Autobesitzer, der damalige Davoser Baumeister Gaudenz Issler, seinen Benz nach kurzer Zeit wieder zurückgab. Die Bündnerinnen und Bündner sahen ihre Freiheit auf den Strassen durch die Autos bedroht.
Die Post sah die Fahrzeuge als Gefahr für den reibungslosen Postkutschenverkehr. Und auch der Tourismus stellte sich zu Beginn hinter das Verbot, da gemäss damaligen Aussagen die Feriengäste wegen der Ruhe nach Graubünden kamen.
Der Kampf ums Automobil
Ein Flugblatt der damaligen Gegnerschaft warnte sogar davor, für «fremde Autoprotzen» die Freiheit der Strassen zu verkaufen. Ausserdem konnte die damals ausgebaute Bahnstrecke keine Konkurrenz gebrauchen. Kurzum – es brauchte neun Volksabstimmungen, um das Verbot zu kippen.
Schliesslich kippten die Stimmberechtigten das Verbot heute vor hundert Jahren mit 52,4 Prozent Ja-Stimmen. Die Gegnerinnen und Gegner verabscheuten das Auto aber weiterhin. So kam es, dass Autofallen aufgestellt und Steine gegen durchfahrende Fahrzeuge im Prättigau geworfen wurden.
Wie der Historiker Simon Bundi im Gespräch mit Keystone-SDA ausführte. Er erforschte im Auftrag des Instituts für Kulturforschung Graubünden die Jahre nach dem Verbot.
Die Opposition sei aber nach der Aufhebung zu schwach gewesen, und das Auto für den Tourismus zu wichtig.
Nach dieser Wende lebte die Faszination Auto erst recht auf. Es wurden Veranstaltungen für Autofans durchgeführt, es entwickelten sich Communitys, Menschen liessen sich mit Fahrzeugen fotografieren – ein Trend, der bis heute anhält.
Das Automobil als Teil des Heimatgefühls
Postkartensujets zeigten befahrene Strassen, der heutige Oldtimer etablierte sich zum Bündner Heimatgefühl. Dieser Ambivalenz der Gefühle widmet sich auch eine Ausstellung im Rätischen Museum in Chur.
Bis 19. Oktober lotet diese aus, «wo die Autolust und der Autofrust besonders hoch sind, welche Themen und Fragen sich zum Automobil immer wieder stellen und welche Aspekte besonders starke Emotionen bewirken».
Weil Graubünden der letzte Kanton war, der den motorisierten Verkehr zuliess, war dementsprechend auch der Strassenausbau rückständig.
In den 1960er-Jahren war gerade mal ein Drittel der Bündner Strassen asphaltiert. In der restliche Schweiz waren es bereits 70 Prozent. Die Bündner holten aber rasch auf und entwickelten dabei eine Spezialität: Umfahrungen.
Umfahrungen als Lösung für Lebensqualität
Nirgends im gesamten Alpenraum gebe es eine vergleichbare Anzahl wohlüberlegter Umfahrungen, so Bundi. Um die Lebensqualität in den Dörfern zu schützen, wurden teilweise Umfahrungsstrassen durch komplette Täler gezogen – Beispiel Prättigau.
Wer heute nach Davos fährt, quert kein einziges Dorf. Diese Lebensqualität gilt es auch heute zu schützen, wie die Bündner Infrastruktur- und Mobilitätsdirektorin Carmelia Maissen (Mitte) zu Keystone-SDA sagte.

Die Frage, welchen Raum der Verkehr einnehmen soll und wie die mit dem Verkehr einhergehenden Zielkonflikte gelöst werden können, ist heute wie damals aktuell.
Erst Anfang Mai beschloss der Nationalrat, dass Graubünden Hauptstrassen durch Ortschaften sperren darf.
Temporäre Verbote als Schutzmassnahme
Wenn Stau durch den Transitverkehr droht. Das Geschäft kommt demnächst in den Ständerat. Dieses temporäre Verbot sei ein weiteres Instrument, die Dörfer vom Ausweichverkehr zu schützen, so Maissen.
Dieser sei zunehmend eine Belastung für die betroffene Bevölkerung. Gleichzeitig bringe der Verkehr aber auch viele Gäste und damit Wertschöpfung nach Graubünden.
Die genaue Ausgestaltung des Verbots sei derzeit noch unklar. Auch damals beim flächendeckenden Verbot gab es Ausnahmen, beispielsweise für Ärzte. Die heutige Situation lasse sich jedoch nicht mit dem Fahrverbot von vor 100 Jahren vergleichen.
Die Zeit eines ganzheitlichen Verbotes sei vorbei, so Maissen.
Strassen als Lebensader des Kantons
Die Erschliessung des topografisch anspruchsvollen Graubündens sei ohne Strassenverkehr undenkbar. Die Strassen seien die Lebensader des Kantons.
Bundi geht noch einen Schritt weiter: «Vielleicht hätte heute manches Bündner Bergdorf ohne Auto gar keine Einwohnende mehr».
Seit 15 Jahren zählt der Bergkanton mehr Fahrzeuge pro Kopf als der Schweizer Durchschnitt. 2024 zählten die Behörden in Graubünden 581 Personenwagen pro tausend Einwohner. In der Schweiz waren es 535.