Amnesty International hat den Jahresbericht 2020 publiziert. Im Interview spricht Geschäftsleiterin Alexandra Karle über das bewegte Jahr.
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Alexandra Karle ist die Geschäftsführerin bei der Sektion Schweiz von Amnesty International. - Nau.ch
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Das Wichtigste in Kürze

  • Amnesty International veröffentlichte heute den Jahresbericht 2020.
  • Häusliche Gewalt, Radikalisierung und die gefährdete Meinungsfreiheit stehen im Zentrum.
  • Geschäftsleiterin Alexandra Karle wünscht sich besonders für Flüchtlinge mehr Hilfe.

Das Coronavirus, tausende Tote, überlastete Gesundheitssysteme und immer mehr einschränkende Massnahmen. Das Jahr 2020 hielt die Welt auf Trab. Und das Coronavirus tut dies heute immer noch. Amnesty International zieht im heute veröffentlichten Jahresbericht Bilanz über das Pandemie-Jahr.

Amnesty International: Meinungsfreiheit in Gefahr

Impfstoffknappheit, geschlossene Grenzen und zunehmende Gewalt gegen Frauen und Minderheiten sind nur einige der aufgelisteten Punkte. Anlass bot die Pandemie auch für Einschränkungen der Meinungsfreiheit. Alexandra Karle, Geschäftsleiterin der Sektion Schweiz von Amnesty International, spricht im Interview mit Nau.ch über das vergangene Jahr.

Nau.ch: Wann waren Sie zuletzt an einer Demonstration?

Alexandra Karle: Erst kürzlich nahm ich an einer Demonstration für die Aufnahme von Asylsuchenden aus Griechenland teil. Es war eine kleine Demo in Bern. Natürlich hielten wir uns an die Auflagen.

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Keine Schutzmasken und kein Abstand weit und breit trotz Coronavirus: Solche Szenen wie diese hier aus Liestal BL häuften sich zuletzt. - Keystone

Nau.ch: Klingt, als wäre die Aktion ohne Einschreiten der Polizei über die Bühne gegangen.

Alexandra Karle: Genau. Es verlief alles ruhig.

Nau.ch: Das ist in letzter Zeit nicht selbstverständlich. Inwiefern veränderte die Corona-Pandemie das Demonstrations-Treiben?

Alexandra Karle: Die Regierungen müssen zu Krisenzeiten Massnahmen treffen, die die Grundrechte einschränken. Aber solche Einschränkungen müssen immer sehr genau abgewogen werden. Ein pauschales Demo-Verbot geht nicht. Auch in Pandemie-Zeiten spricht nichts gegen friedliche Demonstrationen.

Nau.ch: Gäbe es kein Verbot für Grossdemonstrationen: Würden Sie auf die Strasse gehen?

Alexandra Karle: Ich kann das Verbot nachvollziehen. Es gibt alternative Formen für den Protest. Online oder mit vereinzelten Personen auf der Strasse. Ich würde jetzt auf keinen Fall in einer Gross-Demo mitlaufen.

Sichere Meinungsfreiheit in der Schweiz

Nau.ch: Wie steht es um die Meinungsfreiheit?

Alexandra Karle: In der Schweiz ist die Meinungsfreiheit nicht in Gefahr. Doch in vielen anderen Ländern, selbst in Europa, ist die Freiheit eingeschränkt. Es wurden Journalistinnen und Journalisten eingesperrt und Kritiker festgenommen.

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Anisa Schahid, eine der bekanntesten afghanischen Journalistinnen, steht auf dem Gelände des TV-Senders Tolonews in Kabul. Foto: Arne Immanuel Bänsch/dpa - sda - Keystone/dpa/Arne Immanuel Bänsch

Nau.ch: Kritiker äussern auch hierzulande ihre Meinung. An grundsätzlich friedlichen Corona-Demos kommt es immer wieder zu Ausschreitungen, so wie zuletzt in St.Gallen. Warum befruchtet die Pandemie einzelne Radikalisierungen?

Alexandra Karle: In Krisenzeiten entsteht immer auch ein gewisser Egoismus. So zum Beispiel beim Impfstoff: Jedes Land versucht sich so viele Dosen zu sichern, wie nur möglich. Und denselben Egoismus gibt es auch innerhalb eines Landes. Manche Einschränkungen können also nur schlecht hingenommen werden.

Nau.ch: Was kann der Staat tun?

Alexandra Karle: Transparenz und eine Befristung der Massnahmen sind wichtig. Der Nutzen sollte auch dringend immer wieder überprüft werden. Am besten durch eine unabhängige Menschenrechtskommission. Die es auf nationaler Ebene leider noch nicht gibt.

«Es wäre von Vorteil, wir hätten endlich eine nationale Menschenrechtsorganisation.» - Nau.ch

Nau.ch: Transparenz wäre auch von der Regierung wünschenswert. Und Zusammenhalt. Ueli Maurer äusserte sich vergangene Woche kritisch.

Alexandra Karle: Ich als Bürgerin fände ein einheitliches Auftreten ebenfalls besser.

Die Schweiz könnte mehr tun bei der Flüchtlingskrise

Nau.ch: Zum Thema Zensur: Müssten Fake-News in Krisenzeiten nicht zensiert werden? Damit könnte der wachsenden Unsicherheit in der Bevölkerung entgegengewirkt werden.

Alexandra Karle: Prinzipiell ist Zensur immer schwierig. Diskurs und verschiedene Meinungen sind wichtig. Die grossen Firmen sollten hierzu eine funktionierende Selbstregulierung haben.

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Amnesty International setzt sich für die Rechte aller Menschen ein. - Keystone

Die Verifikation bleibt wichtig. Amnesty International hat hier seit ein paar Jahren eine Tech-Gruppe für die Verifizierung von Videos. Diese stammen häufig aus Kriegs- und Krisengebieten.

Nau.ch: Wir blicken gemeinsam zurück. Was liegt ihnen aus dem Jahr 2020 besonders am Herzen?

Alexandra Karle: Die Schweiz könnte mehr tun, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Eine Ausbreitung der Pandemie kann in den Lagern in Griechenland oder im Libanon nicht verhindert werden. Hier muss gehandelt werden.

«Man könnte noch viel mehr tun!» - Nau.ch

Nau.ch: Sie appellierten beim Stellenantritt vor etwa einem Jahr an Menschlichkeit und Solidarität. Wichtige Attribute in Krisenzeiten, die aber oft vergessen gehen.

Alexandra Karle: Die Solidarität in der Schweiz ist verhältnismässig gross. Die Spenden blieben das ganze Jahr über konstant. Aber ich appelliere in die Menschlichkeit in jedem von uns.

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Ein Banner von Amnesty International verlangt die Integration von Flüchtlingen. - Keystone

Wir sollten offen bleiben, niemanden diskriminieren oder ausgrenzen. Wenn jeder sich daran erinnert, wird die Gesellschaft schon ein Stück besser.

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