Aargauerin hat sich um ihre IV-Rente getwittert
Seit 17 Jahren wird Brigitte Obrist, ehemalige Prostituierte, vom Staat unterstützt: Sie leidet an Cluster-Kopfschmerzen. Dass sie daneben ein aktives Mitglied der Gesellschaft ist und auch online gerne diskutiert, hat sie nun ihre IV-Rente gekostet.
Das Wichtigste in Kürze
- Die Aargauerin Brigitte Obrist leidet an Cluster Kopfschmerzen und wurde darum während 17 Jahren von der IV unterstützt.
- Die ehemalige Prostituierte setzt sich online und an Podien vehement für ihre Ideale ein.
- Dass sie so oft auf Facebook und Twitter aktiv ist, war einigen Mitbürgern ein Dorn im Auge. Sie verpetzten Obrist bei der IV.
- Die IV ist auf die anonymen Meldungen eingegangen und hat Obrist's IV-Rente halbiert.
Brigitte Obrist ist eine Frau mit einer Meinung. Diese tut sie besonders gerne online kund. Auf Facebook teilt sie Artikel, auf Twitter hat sie in den letzten sechs Jahren über 62'000 Mal das Wort ergriffen. Mit ihrer Vergangenheit als Prostituierte geht Obrist offen und differenziert um, was sie zu einem gerne gesehenen Gast bei Vorträgen oder Podiumsdiskussionen zu diesem Thema macht. Auch politisch nimmt sie kein Blatt vor den Mund. Soweit, so gut.
Doch seit 17 Jahren plagen die Aargauerin sogenannte Cluster-Kopfschmerzen. Medizinisch gelten diese als unheilbar, den Alltag können sie stark einschränken. «Es kommt von einer Sekunde auf die andere und fühlt sich an, als müsste ich ein Kind durch mein Auge gebären», erklärt Obrist gegenüber watson. Seit 17 Jahren bekommt sie darum eine IV-Rente.
IV-Rente halbiert
Was tun gegen die ohnmächtig machenden Schmerzen? Man könne den Kopf gegen die Wand hauen, oder sich ablenken. Obrist zieht letzteres vor: «Habe ich Schmerzen, beginne ich in die Tasten zu hauen.» Die Einen bewundern sie für diesen positiven Umgang mit ihrer Krankheit. Andere hingegen hauen selber in die Tasten - um Obrist bei der IV zu melden. Eine anonymer «Steuerzahler» schrieb: «Kann diese Frau nicht einen Job annehmen, sei es Teilzeit oder Vollzeit, wenn sie doch permanent vor dem Computer sitzt?» Eine weitere Klage kommt von einer Frau: «Wer so recherchieren, informieren, antworten kann, wer so viele Meinungen und Kritik ins Netz stellen kann, dem sollte es doch möglich sein, ein Stück des Einkommens selber zu erarbeiten!» Nun hat die IV den Fall Obrist erneut geprüft - und die Rente halbiert.
Europäischer Gerichtshof rügt die Schweiz
Besonders schlimm für Obrist war, dass die anonymen Klagen gegen sie Eingang in das IV-Gutachten fanden, erklärte sie watson. Ob es überhaupt rechtens ist, dass IV-Bezüger bespitzelt werden dürfen?
«Nein», sagt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Er rügte die Schweiz im Februar 2016 in einem Urteil für ihre bisherige Praxis, Sozial-Detektive bei Verdachtsmomenten aufzubieten und IV-Bezüger auszuspioniert. Der EGMR sagte, dies sei ohne eine gesetzliche Grundlage nicht zulässig.
Diese will der Bundesrat nun schaffen. Ein Gesetzesentwurf sieht vor, dass künftig Personen per Video, Fotomaterial oder Tonaufnahmen überwacht werden dürfen.
Das Denunziantentum ist hässlich – die Reaktion der IV ist skandalös. Niedergang eines einstigen Sozialstaats. https://t.co/emN4lmp9tK
— Thomas Ley 💬 (@thomas_ley) November 3, 2017
So ein blödsinniger Entscheid. Ich tweete am meisten, wenn ich krank im Bett liege. https://t.co/DW3tQcw5vK
— Dina D. Pomeranz 🟣 (@DinaPomeranz) November 3, 2017