Warum fürchten wir uns mehr vor einem Super-GAU, als vor einem Herzinfarkt? Diese Frage stellt sich Walter Rüegg, ehemaliger Chefphysiker der Schweizer Armee.
Atomkraftwerk Gösgen
Das Schweizer Atomkraftwerk Gösgen bereitet so manchem Schweizer Bauchweh. - Keystone
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Das Wichtigste in Kürze

  • 61 Prozent aller Menschen fürchten sich vor Atomkraftwerken und einem Super-GAU.
  • Die häufigsten Todesursachen in der Schweiz sind aber Herzkreislauf-Krankheiten und Krebs.

Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leidet in Europa jeder zweite Mensch irgendwann im Laufe seines Lebens an einer psychischen Störung. Die Mehrheit, deren 14 Prozent, entwickeln eine Angststörung. Sie fürchten sich vor Tieren, Dunkelheit, geschlossenen – oder allzu offenen – Räumen, Menschen, Erwartungen und dem Leben selber. Sie fürchten sich so sehr, dass sie – und irgendwann auch ihr Umfeld – heftig an der Angst zu leiden beginnen.

Wer nicht betroffen ist, findet nicht immer Verständnis für diese doch so «unbegründeten» Ängste.

Andere Themen dagegen bereiten nicht nur dem Einzelnen Sorge, vielmehr sind diese Sorgen längst salonfähig geworden. Eine Umfrage der ETH zeigte die Top Five der Ängste von Herrn und Frau Schweizer auf:

1. Atomkraftwerke (61 Prozent)
2. Terrorismus (55 Prozent)
3. Gentechnik in der Landwirtschaft (53 Prozent)
4. Klimawandel (48 Prozent)
5. Neuartige Viren (40 Prozent)

Anders als die Ängste psychisch kranker Menschen, werden diese gesellschaftlichen Sorgen kaum als «unbegründet» abgetan. Doch: Fürchten wir uns wirklich vor dem Richtigen?

«Wir sind eine Angstgesellschaft»

«Wir leben in einer regelrechten Angstgesellschaft», sagt Walter Rüegg, ehemaliger Chefphysiker der Schweizer Armee. «Angst an sich ist zwar nicht schlecht, sie ist evolutionstheoretisch sogar wichtig. Aber heute fürchten wir uns vor dem Falschen», sagt der Wissenschaftler.

Ein Blick in die Statistiken des BfS von 2015 zeigen, was uns tatsächlich heftig an der Lebenszeit nagt:

1. Herzkreislauf-Erkrankungen (daran starben 9'715 Männer und 11'878 Frauen)*
2. Krebs (daran starben 9'571 Männer und 7'690 Frauen)*
3. Demenz (daran starben 1’965 Männer und 4’400 Frauen)
4. Erkrankung der Atmungsorgane insgesamt (daran starben 2’315 Männer und 2'299 Frauen)
5. Unfälle und Gewalteinwirkung (daran starben 2’299 Männer und 1’528 Frauen)

* Diese beiden Erkrankungsfelder machen je einen Drittel aller Todesfälle aus.

Es sind also weder Terroranschläge, noch der Klimawandel oder neuartige Killerviren, die unserer Gesellschaft tatsächlich an die Nieren gehen. «Vielmehr sind es Laster wie Rauchen, Trinken oder Übergewicht, die uns bis zu 20 Lebensjahre kosten können», erklärt Rüegg. Diese Faktoren nämlich tragen zu einem höheren Risiko für Herzkreislauf-Erkrankungen bei.

«Auch genügend – oder eben zu wenig – Bewegung kann die Lebenserwartung um zehn Jahre verändern», fügt der Physiker an. «Radioaktive Strahlung, die Gentechnik oder terroristische Akte verkürzen unsere Lebenserwartung im Durchschnitt praktisch nicht», sagt Rüegg, der mittlerweile in beratender Funktion für den Energie- und Automatisierungstechnikkonzern ABB arbeitet, sich klar für die Atomenergie ausspricht, gleichzeitig aber auch für erneuerbare Energien tätig ist.

Sein Fazit: «Wir fürchten uns zu viel zu stark vor kleinen Risiken, die wir nicht beeinflussen können – und zu wenig vor den grossen Risiken, auf die wir persönlich einen Einfluss haben.» Warum das so ist?

Grosse Killer längst besiegt

Die grossen Killer wie Pest, hohe Kindbettsterblichkeit oder Hungersnöte haben wir – zumindest im Westen – ausgemerzt, erklärt Rüegg. Noch um 1900 lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei 45 Jahren. Heute beträgt sie mehr als 80 Jahre. «Dass wir uns jetzt auf die kleinen Sachen konzentrieren, die tatsächlich gar nicht so tödlich sind, wie wir denken, ist ein Zeichen unserer Luxusgesellschaft.»

Zudem sei es einfacher, sich vor einem Terrorangriff zu fürchten, als endlich statt mit dem Auto, mit dem Fahrrad zur Arbeit zu fahren. Oder auf die geliebten Zigaretten zu verzichten.

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