Sind traditionelle Diktate in der Schule zukunftsfähig?
Ist die Zeit der klassischen Diktate in der Schule vorüber? Eine Kolumne von Clarita Kunz.

Das Wichtigste in Kürze
- Clarita Kunz schreibt auf Nau.ch Kolumnen über das Bildungssystem in der Schweiz.
- Diesmal schreibt Kunz über Diktate.
- Sie seien aus pädagogischer Sicht nicht sinnvoll.
Soviel vorab: Diktate, wie sie im traditionellen Unterricht gehandhabt werden, sind von gestern und aus pädagogischer Sicht nicht sinnvoll.
Zwar eignen sie sich grundsätzlich, um Fortschritte in Orthografie, Grammatik und Schreibstil zu überprüfen. Aber nicht so, wie dies in den Klassenzimmern üblich ist – nicht im gleichförmigen Unterricht.
Warum sind klassische Diktat problematisch?
Ungleiche Vorbereitungszeit: Manche Kinder benötigen stundenlange Vorbereitung – zuhause. Für andere genügen wenige Minuten – sie üben es bereits in der Schule.
Unterschiedliches Schreibtempo: Langsam Schreibende müssen mit dem von der Lehrperson vorgegebenen Tempo mithalten. Sie geraten unter Druck, wenn sie dem Tempo der Lehrperson folgen müssen. Schnell Schreibende hingegen müssen warten. Das ist für beide Gruppen frustrierend.
Ungleichbehandlung bei Lernschwierigkeiten: Kinder mit einer Dyslexie-Diagnose (Lese-/Rechtschreibschwäche) schreiben kürzere Texte und erhalten angepasste Noten. Zudem dürfen sie mehr Fehler als die anderen machen, was mit dem Vermerk «mL» (mit angepassten Lernzielen) gekennzeichnet wird.
Langfristige Konsequenzen: Der Vermerk «mL» kann – je nach Bundesland oder Kanton – den weiteren Bildungsweg einschränken. Er bedeutet: Hauptschule statt Realschule, Realschule statt Sekundarschule oder Sek B statt Sek A.
Dass diese Massnahme langdauernde Auswirkungen hat ist vielen Eltern und Lernenden überhaupt nicht bewusst, da dies oft nicht klar kommuniziert wird. Sie freuen sich zunächst meistens über die erleichternden Bedingungen und die genügenden Noten. Erst nach und nach verstehen sie die Folgen.
Ein Beispiel: Lernende, die Diktate mit Anpassungen schreiben «dürfen», dürfen weniger lange Texte schreiben oder mehr Fehler machen als die anderen, um genügende Noten zu erhalten. Fünft- und Sechstklässler: innen erleben dies zu Recht als Unfairness und Ausgrenzung.
Das kann zu Lern- und Verhaltensstörungen, geringer Selbstachtung, Mobbing, Schulangst und sogar zu Suizidgedanken führen.

Wanderdiktate sind ungerecht
Auch alternative Formen wie die sogenannten Wanderdiktate sind ungerecht: Kinder müssen Texte, die die Lehrpersonen kopiert und im Klassenzimmer an Whiteboard, Schränken und Wänden befestigt haben, abschreiten und aus dem Gedächtnis aufschreiben.
Dabei gibt es auch wieder grosse, für jedermann klar erkennbare Unterschiede: Einige schaffen es in der von der Lehrperson vorgegebenen Zeit kaum, drei Sätze zu schreiben und machen viele Fehler.
Andere schreiben den ganzen Text mit Null Fehlern in wenigen Minuten. Auch diese – gut gemeinte – Alternative hilft Kindern mit sprachlichen Defiziten kaum, da der Lernstoff zu schnell wechselt und keine nachhaltige Übung möglich ist.
So entsteht eine Negativspirale, die oft in funktionalem Analphabetismus endet: 20 Prozent der Erwachsenen sind auf dem Lernstand eines Viertklässlers stehengeblieben.
Manche verstehen einfache Texte und Anweisungen nicht.
Diese Diktate gehören abgeschafft
Sollen Diktate demnach abgeschafft werden? Ja! Aber nur jene, die Kinder ausgrenzen.
Wegen der grossen Heterogenität der sprachlichen Voraussetzungen, die schon beim Schuleintritt nachgewiesen werden kann, sollten nur Diktate geschrieben werden, die der Lerngeschwindigkeit und dem Lernstand der einzelnen Kinder entsprechen. So würden persönliche Erfolge sichtbar und zu weiterführender Arbeit motivieren.
Ein Beispiel: Ein Kind macht im ersten Durchgang eines Diktats 24 Fehler. Es übt dasselbe Diktat noch einmal gezielt – allein, mit einer Bezugsperson oder mit digitalen Hilfsmitteln – und schreibt es erneut. Es macht nur noch 19 Fehler. Es freut sich über den Erfolg.
Ein Erfolg, der unsichtbar bliebe, wenn es das Diktat unter Zeitdruck im Klassenverband schreiben müssten, da es dort erneut eine – wenn mögliche die gleiche! – schlechte Note bekommen würde.
Zur Person: Clarita Kunz ist erfahrene Lehrerin/Sonderpädagogin, Inklusionsexpertin, Referentin und Autorin von «Schule als Leistungsbremse»