«Kinderlärm stört so stark wie eine laute Baustelle!»
Von Kinderlärm geplagte Nachbarn leiden so fest, dass sie umziehen müssen, schreibt Kolumnistin Verena Brunschweiger. Aber: Wer will schon kinderfeindlich sein?

Das Wichtigste in Kürze
- Dr. Verena E. Brunschweiger schreibt auf Nau.ch regelmässig Kolumnen.
- Heute schreibt sie über Kinderlärm – und seine Folgen.
In Mehrfamilienhäusern nehmen die einzelnen Bewohner aufeinander Rücksicht. Es sei denn, es handelt sich um Eltern mit Kindern. Dann sind Rücksichtnahme und Toleranz ausschliesslich Sache der Nachbarn.
Im angenehmen Bewusstsein, dass unsere Rechtslage kein Recht auf ruhiges Wohnen kennt, nutzen Eltern nicht selten ihre Narrenfreiheit maximal aus. Da wird stundenlang im Wohnzimmer mit Fussball gespielt und geschrien, oder Türen und Fenster geknallt. So dass man sich wundert, wieso die noch in ihren Angeln sind.
Kinderfreie Wohnhäuser in Kanada
Wen interessieren schon die Leute in der Wohnung darunter, die im Home Office zu arbeiten versuchen?
Kein Wunder, dass geplagte Nachbarn oft so leiden, dass ihnen letztendlich nichts anderes übrig bleibt, als umzuziehen. Kein Wunder, dass es in British Columbia kinderfreie Wohnhäuser gibt – für Leute, die in Kanada echte Ruhe suchen.
Und es ist auch kein Wunder, dass Menschen, die vorher nichts gegen Reproduktion hatten, Aversionen gegen Eltern entwickeln. Und leider eben auch bisweilen gegen die Kinder, die nichts dafür können.

«Ein Typ mit Baby ist ein kaputter Typ»
So geht es auch dem Titelhelden in Virginie Despentes Trilogie «Das Leben des Vernon Subutex». Als Vernon die Wohnung eines Freunds betritt, der mittlerweile Vater ist, fällt ihm die ach so herzige Tochter eher negativ auf. Ihr stumpfsinniges Dreiradfahren um den Tisch herum wirkt «comme une malade», also wie eine (geistig) Kranke. Auch der Freund selbst büsste etwas ein: «Un mec avec bébé est un mec fou», was übersetzt «Ein Typ mit Baby ist ein kaputter Typ» heisst.
Treffend beschreibt der Titelheld, wie notwendig Eltern es doch immer haben, Leuten ohne Kinder aufs Brot zu schmieren, wie unglaublich wunderbar das Leben erst sei, seit selbige Kinder da sind.
Nicht allein in so einer Hölle sitzen
Dass die ehrliche Antwort kinderfreier Menschen, sie hätten beim Anblick dieses Familienlebens alles andere als Lust auf ebendieses Pseudo-Idyll, nicht gut ankommt, ist ebenfalls wenig erstaunlich. Und offenbar eine weltweite Konstante.
«Galères d'adulte» nennt Vernon dieses Lebensmodell. Erwachsenengaleere oder modern Nerverei, Plackerei… Eltern lassen daher meist keine Gelegenheit aus, anderen diese Sache schmackhaft zu machen, um nicht allein in so einer Hölle zu sein.
Dabei gibt Vernons Freund später im Gespräch durchaus zu, dass er sich benutzt fühlt, dass die Beziehung gelitten hat. Seine Partnerin würde ihn nicht mehr brauchen, seit sie das Kind hätte. Und er selbst betont, dass er aber doch bitteschön ein menschliches Wesen ist – und kein «réservoir à sperme» (Spermareservoir).
Im dritten Band der Trilogie sagt dann eine Mutter den prägnanten Satz «Die Familie ist der Tod des Paares». Sie bedauert die mangelnde Ehrlichkeit anderer Eltern, die ja meistens tatsächlich ein nachgerade pervers-bösartiges «Plaisir» daraus ziehen, andere in eben diese Falle zu locken.
Eine andere Hauptfigur im Roman äussert sich über ihre Nachbarn, ein junges Paar. Zuerst hätten sie wochenlang «geheimwerkert», was das Zeug hielt. Jetzt lassen sie jede Nacht ihr Baby plärren – und terrorisieren so das gesamte Gebäude.
Wer will schon kinderfeindlich sein?
Die Betroffene verlässt das Haus, dreht die Musik auf. Aber was bleibt, ist die reale Störung und die Frage, die man sich nur wieder und wieder stellen kann. Mit welchem Recht massen es sich Eltern an, allen anderen Unschuldigen das alltägliche Leben zu vergällen? Antwort: weil sie es können.
Weil sie gewohnt sind, dass man ihnen wirklich alles unkommentiert durchgehen lässt. Wer will sich schon den Vorwurf der Kinderfeindlichkeit einhandeln?
Diese ultimative Keule wird sofort ausgepackt, selbst wenn man lediglich die Augenbrauen hochzieht. Eltern nach dem Mund zu reden, ist unabdinglich, auf egal welcher politischen Seite.
Man kann aber zumindest Leuten mal den Hinweis auf Studien geben. Wie jene, in der festgestellt wurde, dass Baustellen und Kinderlärm mit riesigem Abstand als die entsetzlichsten Störquellen genannt werden. Weit abgeschlagen folgen laute Musik oder Rasenmähen.
Rücksichtsloses Elternverhalten mit Auswirkungen
Man kann darauf hinweisen, dass Rücksichtnahme eine Tugend ist. Eine, die ihren Kindern später eventuell einmal zugutekommt und die sie lernen könnten, wenn sie denn an ihren Eltern beobachtbar wäre.
Wenn sie aber nur extrem rücksichtsloses Elternverhalten sehen, kann man sich die Wahrscheinlichkeit ausrechnen, mit der ein Kind, welches das Pech hat, bei solchen Eltern aufzuwachsen, selbst nicht gerade die wandelnde Rücksichtnahme werden wird.
Als Letztes könnte man auf eine neue Studie aus Schweden verweisen, in der sich rücksichtsvolle Schwedinnen gleich ganz gegen Reproduktion entscheiden.
Unter den genannten Gründen fand man nicht zuletzt Sorge um Überbevölkerung und den Klimawandel. Nicht umsonst sind die skandinavischen Länder so progressiv – und haben in vielerlei Hinsicht Vorbildcharakter!
Zur Person: Dr. Verena E. Brunschweiger, Autorin, Aktivistin und Feministin, studierte Deutsch, Englisch und Philosophie/Ethik an der Universität Regensburg. 2019 schlug ihr Manifest «Kinderfrei statt kinderlos» ein und errang internationale Beachtung.








