Die Erderwärmung hat Gletschern diesen Sommer stark zugesetzt. Der Glaziologe Felix Keller erklärt, weshalb trotzdem noch Grund zur Zuversicht besteht.
Glaziologe Felix Keller
Der Glaziologe Felix Keller kämpft für den Morteratschgletscher. - Mayk Wendt
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Das Wichtigste in Kürze

  • Der Glaziologe Felix Keller ist Dozent an der Acedemia Engadins sowie der FH Graubünden.
  • Im Interview gibt er Auskunft, wie die Schweizer Gletscher noch gerettet werden können.
  • Eine überraschende Meinung vertritt er in Sachen Beschneiungsanlagen.

Herr Keller, die Gletscher in der Schweiz sind diesen Sommer so stark geschmolzen wie noch selten. Wie dramatisch ist die Situation?

Felix Keller: Es ist dramatisch, aber darin steckt auch ein grosses Problem. Im vergangenen Sommer haben sich die Medienberichte gegenseitig überboten mit ihren Warnungen. Sie haben dies in guter Absicht getan, wollten damit aufrütteln. Doch damit erreichten sie das Gegenteil. Das Dramatisieren des Gletscherschwundes bringt uns nicht weiter, es lähmt uns vielmehr.

Wieso bewirken solche Warnungen genau das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war?

Felix Keller: Man weiss aus der Forschung, dass Bedrohungsszenarien kontraproduktiv sind und nicht zu einem Handeln führen. Viel mehr erreicht man, wenn die Leute das Gefühl bekommen, sie können mit ihrem Einsatz etwas ändern beziehungsweise beeinflussen.

Die Frage ist: Können wir das beim Klimawandel noch?

Felix Keller: Der Menschheit standen noch nie so viele Mittel zur Verfügung wie heute. Es besteht also allen Grund zur Zuversicht.

Morteratschgletscher Pontresina Engadin
Wanderer auf dem Morterartschgletscher bei Pontresina. - ESTM

Weshalb geschieht nicht mehr?

Felix Keller: Nirgendwo klafft eine solch grosse Lücke zwischen Wissen und Handeln wie bei der Nachhaltigkeit.

Wir wüssten alle schon längst, was wir tun könnten, um der Klimaerwärmung Einhalt zu gebieten. Trotzdem tun wir es nicht, weil es nicht attraktiv ist.

Weil es auch um Verzicht geht?

Felix Keller: Das spielt neben der Ohnmacht auch eine entscheidende Rolle. Verzicht an und für sich kann auch was Lustvolles sein.

Entscheidend ist, welche Absichten beziehungsweise Motive ich damit verbinde. Deshalb sollte man meiner Meinung nach nicht nur Geld in den Umweltschutz, sondern auch mehr Mittel in die Motivationsforschung stecken.

Wie bringen wir die Menschen dazu, dass sie noch viel mehr als heute für die Nachhaltigkeit tun? Dies ist eine ganz entscheidende Frage.

Aber können wir das Rad wirklich noch rumreissen?

Felix Keller: Klar, wir müssen nur geduldig sein. Der Rückgang des Morteratschgletschers diesen Sommer ist das Ergebnis der Klimaverhältnisse vor 20 Jahren, also im Jahre 2003.

Bis wir eine Veränderung feststellen, dauert es also eine Weile. Das geht nicht von heute auf morgen.

Kann die aktuelle Entwicklung eine Chance für einen nachhaltigeren Tourismus sein?

Felix Keller: Auf jeden Fall. Wir stellen dies hier im Oberengadin klar fest: Es findet ein Wandel statt. Wir müssen jetzt lediglich aufpassen, dass wir diese Entwicklung mit unnötigen Drohungen nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

Morterartschgletscher Luftaufnahme Engadin
Aus der Luft ist der Rückgang des Morteratschgletschers gut zu erkennen. - Mayk Wendt

Sie verfolgen seit mehreren Jahren das Projekt «MortAlive» zum Schutze der Gletscher. Ziel ist es, den Morteratschgletscher ohne Strom und nur mit Wasserdruck künstlich zu beschneien und so einen weiteren Rückgang der Eismassen im Sommer zu stoppen. Lässt sich dies jemals realisieren?

Felix Keller: Wir sind diesbezüglich sehr zuversichtlich. Erste Tests verliefen positiv. Wir wissen, dass das System grundsätzlich funktioniert.

In einem nächsten Schritt wollen wir es noch in einem Skigebiet testen, bevor wir damit auf den Gletscher gehen.

Gibt es schon Interessenten?

Felix Keller: Die gibt es. Wir stehen mit drei Skigebieten im Gespräch. Wir brauchen aber auch noch Geld, rund zwei bis drei Millionen Franken.

Das Geld zusammenzubringen ist die grösste Herausforderung – richtig?

Felix Keller: Wir sind optimistisch. Das Projekt löst Freude aus.

Das Projekt gab in der Schweiz in den vergangenen Jahren immer wieder zu reden. Stösst es auch international auf Interesse?

Felix Keller: Pakistan und Peru verfolgen das Projekt sehr genau. Sie zeigen grosses Interesse, bei einem Gelingen die Technologie bei sich einzusetzen.

In diesen Ländern beziehen sie zum Teil bis zu 80 Prozent des Wassers von Gletschern.

Während es beim Morteratschgletscher um die Entwicklung des Verfahrens geht, gibt es insgesamt über 200 Mio. Menschen weltweit, deren Existenz vom Gletscher abhängt und denen wir mit dem MortAlive Verfahren helfen möchten.

Engadin Felix Keller
Felix Keller ist Glaziologe und Experte für Schnee und Permafrost. - Mayk Wendt

Heute werden in der Schweiz ein Grossteil der Skipisten künstlich beschneit. Stört Sie dies nicht?

Felix Keller: Nein. Sehen Sie: Wir hier im Engadin leben vom Tourismus. Der Wintersport bildet dabei eine der grössten Einnahmequellen.

Wer gegen das technischen Beschneien ist, ist gegen das Skifahren. Und ohne Wintersport haben die meisten Bergtäler in der Schweiz keine Zukunft mehr.

Mit dieser Argumentation machen Sie sich bei Umweltschutzorganisationen nicht beliebt.

Felix Keller: Wenn man gegen die technische Beschneiung ist, muss man auch die Verantwortung dafür übernehmen, wenn in den Wintersportorten die Leute keine Beschäftigung mehr haben.

Ich wünschte mir von den Umweltorganisationen in dieser Frage eine weniger verkrampfte Haltung und zum Beispiel ein Engagement für den Einsatz der neuen energieeffizienten Schneianlagen, die den Stromverbrauch um bis zu 90% senken können.

Nachhaltigkeit besteht nicht nur aus Umweltschutz, sondern hat auch eine ökonomische und soziale Komponente. Diese drei Bereiche müssen im Gleichgewicht sein.

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