Nachruf Jürg Biancone
Alt-Stadarchivar Emil Erne bickt auf das bewegte Leben des am 3. Februar verstorbenen ersten Vizestadtschreiber der Stadt Bern Jürg Biancone zürck.

Als Jürg Biancone am 1. Juli 1981 zur Stadtkanzlei zurückkehrte, hiess seine neue Stelle noch wie seit 1916 Stadtschreiber-Stellvertreter; ab 1998 wurde sie in Vizestadtschreiber umbenannt. Das war auch richtig so, denn Biancone war nie Stellvertreter eines Stadtschreibers; vielmehr waren die Stadtschreiberinnen Elsbeth M. Schaad und Irène Maeder Marsili seine Vorgesetzten. In beiden Fällen ergab sich daraus ein erfolgreiches, nicht nur geschlechtsspezifisch ausgewogenes Tandem. Traditionellerweise bekleidete eine Person mit juristischem Hintergrund das Stadtschreiberamt und beriet den Gemeinderat in allen rechtlichen Belangen; der Vize dagegen war zuständig für alles Praktische: für die Durchführung von Wahlen und Abstimmungen, bis zur Schaffung des Ratssekretariats 2001 für die Versorgung des Stadtrats mit den Sitzungsunterlagen und allem, was das Parlament sonst noch braucht, für die Veranstaltung der offiziellen Bundesfeier auf dem Münsterplatz und anderer Anlässe sowie u.a. für die Betreuung des Budgets der Stadtkanzlei.
Jürg Biancone war Organisator, Ansprechperson, Fachmann für Logistik, Troubleshooter, Vertrauensmann, Laufbursche für alles Mögliche, derjenige, «der alles wusste, minutiös organisierte und Berns Politmaschinerie diskret managte», wie es in einem Zeitungsartikel anlässlich seiner Pensionierung hiess. Man sah ihn mehr unterwegs als tagelang hinter dem Bürotisch. An Wahltagen war er der Erste, der das Ergebnis kannte, und fünfmal musste er einem amtierenden Gemeinderatsmitglied die brutale Botschaft von der Abwahl überbringen. Er diente unter drei Stadtpräsidenten, 19 Gemeinderäten und sieben Gemeinderätinnen. Er nahm an unzähligen Stadtrats- und Gemeinderatssitzungen teil, half bei der Vorbereitung, Traktandierung und Protokollführung mit und stellte als operativer Leiter das Funktionieren der Stadtkanzlei als Drehscheibe für Politik und Verwaltung sicher. Mit seinem zurückhaltenden Auftreten in der Art eines Gentlemans hatte er sich nie in den Vordergrund gedrängt, aber er war allseits hochgeschätzt als profunder Kenner der Stadtverwaltung.
Er war auch für den Erlacherhof als Sitz des Gemeinderats und des Stadtpräsidenten verantwortlich. In seiner Amtszeit kam eine gründliche Renovation dieses repräsentati-ven Stadtpalais aus dem 18. Jahrhundert zum Abschluss. Zeitweise hatten Gemeinde-rat und Stadtkanzlei ins gegenüberliegende Morlothaus dislozieren müssen, was einige logistische Herausforderungen bedeutete. Und immer wieder hatte Bia – wie sein Ak-tenkürzel lautete – Raumfragen für die Dienststellen der Präsidialdirektion zu lösen. Neue Ämter zogen ein, andere wurden ausgelagert. Nicht mehr benutzte Keller- und Estrichräume konnten für das damals noch im Westflügel untergebrachte Stadtarchiv behelfsmässig eingerichtet werden. Längere Zeit beschäftigten ein bürgerfreundliche-rer Empfang inklusive ausgeklügeltem Sicherheitsdispositiv sowie das Bedürfnis nach einer Cafeteria für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter den Hausherrn. Immer wieder stand er plötzlich in der Bürotür und brachte die schlechte Nachricht, wenn gezügelt werden musste, oder die gute, wenn ein Aktenschrank doch noch angeschafft werden konnte. Biancone war mit seiner offenen, kommunikativen Art die Seele des Hauses, war jederzeit verfügbar und nicht auf einen strikten Büroschluss fixiert. Dass vielleicht einmal ein Geschäft unter einem Aktenstapel liegenblieb, würde er selber wohl nicht bestreiten.
Jürg Biancone hat die Berner Stadtverwaltung des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts miterlebt und mitgeprägt: zunächst die Epoche des beschleunigten Verwaltungsaus-baus infolge wachsender städtischer Aufgaben, dann die Phase der wiederholten Re-organisationen und schliesslich die Zeit der sich häufenden Sparmassnahmen. Der Eintritt der Frauen auf allen Ebenen in Politik und Verwaltung, die Erweiterung des Par-teienspektrums, die Schaffung der Präsidialdirektion, die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung, die Bildung von Quartierkommissionen und die Totalrevision der Gemeindeordnung waren ein paar Schwerpunkte in seiner Amtszeit.
Geboren am 15. April 1937, wuchs er im Berner Ostring-Quartier auf. Nach einer KV-Lehre bei der damals bekannten Eisenwarenhandlung Christen AG bildete er sich wei-ter zum Kaufmann HKG. Am 1. Oktober 1969 trat er als Sekretär und Rechnungsführer der Stadtkanzlei in den Dienst der Stadt Bern, doch schon ein Jahr später holte ihn der damalige Stadtpräsident Reynold Tschäppät als Adjunkt II beim Wirtschaftsamt in die neu geschaffene Planungs- und Wirtschaftsdirektion. Dort stieg er 1978 zum Direkti-onssekretär auf und hatte u.a. die Gemeinderatsgeschäfte vorzubereiten.
Inoffizieller Spezialist für Jugendfragen wurde Biancone, als er beim Aufbau des 1971 eröffneten Jugend- und Kulturzentrums Gaskessel mithalf und mit viel Geschick und
Besonnenheit als Ansprechperson der Stadt für das 1981 in der Reitschule eingerich-tete Autonome Jugendzentrum fungierte, und dem Hüttendorf Zaffaraya überbrachte er die Beschlüsse des Gemeinderats höchstpersönlich.
Auch nach seiner Pensionierung am 30. April 2000 blieb Jürg Biancone aktiv. So half er mit beim Transport von medizinischen Hilfsgütern in den Balkan, stellte seine Erfah-rung weiterhin dem Stimmausschuss zur Verfügung und war Vorstandsmitglied in ent-sprechenden Fördervereinen. Auf privaten Reisen begeisterten ihn moderne Kunst und Architektur. Im Juli 2017 kehrte er ins Quartier seiner Kindheit zurück, wo er selbstän-dig im Domicil Egelmoos wohnte. Nach kurzer Krankheit ist er am 3. Februar 2019 ver-storben.