Expertin zu Frontex: «Schengen wäre bei Nein ernsthaft in Gefahr»

Ein Nein zur Finanzierung von Frontex würde zur sicheren Kündigung von Schengen führen, ausser der Gemischte Ausschuss stimmt dagegen, erklärt die Expertin.

Die Schweiz arbeitet seit 2011 mit der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache Frontex zusammen. (Symbolbild) - dpa

Das Wichtigste in Kürze

  • Beim Frontex-Referendum debattieren Politiker, ob das Schengen-Abkommen in Gefahr ist.
  • Eine Expertin für Europarecht erklärt, die Gefahr bei einem Nein sei tatsächlich gross.
  • Das Risiko sei für die minimale Anpassung bei Frontex zu gross.

Die Schweiz muss alle Änderungen der EU-Gesetze übernehmen, die vom Schengen-Abkommen betroffen sind. Und solche Weiterentwicklungen werden sehr oft beschlossen – die aktuelle Liste des Bundes umfasst 340 Einträge auf 75 Seiten.

Viele davon werden von den zuständigen Behörden ohne grosses Aufsehen abgearbeitet. Doch sie können auch zu heftigen politischen Debatten führen und eine Entscheidung an der Urne verlangen. So geschehen bei der Abstimmung im Mai 2019 zur Änderung des Waffengesetzes. Nun wiederholt sich dies beim Referendum gegen die Finanzierung von Frontex.

Schengen-Rauswurf ist reine Panikmache – sagt mal die SVP, mal die SP

Wem die Anpassung der hiesigen Gesetze an Europa in die Karten spielt, betont dabei gerne, ein Nein zur EU-Gesetzgebung komme einem Schengen-Austritt gleich. So weit, so kohärent.

Doch je nach politischer Grosswetterlage ertönt die Warnung mal von Links, dann wiederum von Rechts. Aus der Gegenrichtung heisst es jeweils: Der angebliche Rauswurf von Schengen sei eine «reine Panikmache». Die Worte von SVP-Ständerat Werner Salzmann aus dem Jahr 2019 wiederholt nun praktisch im Wortlaut der politische Gegner Fabian Molina (SP).

Expertin für Europarecht: Reale Gefahr für Schengen/Dublin-Abkommen

Was würde also bei einem Nein zum Frontex-Referendum genau passieren? «Das Abkommen ist damit automatisch beendet, es sei denn, der Gemischte Ausschuss beschliesst etwas anderes. Und dieser beschliesst normalerweise einstimmig», erklärt Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Europa- und Migrationsrecht an der Universität Freiburg. «Aufgrund der sogenannten kleinen Guillotine-Klausel würde dann auch das Dublin-Assoziierungsabkommen dahinfallen.»

Sarah Progin-Theuerkauf, Professorin für Europarecht und Migrationsrecht Université de Fribourg. - zvg

Auch das Argument von Grünen-Präsident Balthasar Glättli, dass ein schneller Austritt wegen der viel zu engen Verflechtung mit den Schengen-Institutionen nicht realistisch sei, entkräftet die Expertin: Von einem «Austritt» könne nicht gesprochen werden, da die Schweiz ja kein EU-Mitglied ist.

«Man tritt aus Organisationen aus. Aus einem völkerrechtlichen Vertrag kann man nicht einfach ‹austreten›, sondern man kündigt ihn», stellt die Expertin klar. «Seine Rechtswirkungen fallen mit Wirksamwerden der Kündigung dahin.»

Es drohe ein völliger Verlust der Zusammenarbeit in den Bereichen Schengen/Dublin. Nicht nur das, auch auf laufende Verhandlungen auf anderen Gebieten wie etwa der Forschung könne dies Einfluss nehmen.

EU hat bisher Verspätungen geduldet

Fabian Molina glaubt dennoch an die Möglichkeiten der Schweiz, bei einem Referendums-Nein keine Kündigung zu kassieren. Die Schweiz sei bereits sieben Mal – einer davon der aktuelle – mit einer verspäteten Umsetzung von Schengen-Weiterentwicklungen durchgekommen. «Warum sollt dies jetzt ein Problem sein?»

Progin-Theuerkauf gibt Molina grundsätzlich recht. «Es ist eigentlich so, dass bei Ablauf der Frist automatisch der Beendigungsmechanismus in Gang gesetzt würde. Die EU hat aber bisher immer bis zum Referendum gewartet.» Da bisher die Umsetzung immer absehbar war, habe es für die verspätete Umsetzung keine Sanktionen durch die EU gegeben.

«Es gibt also in der Praxis durchaus Spielräume. Ich denke aber nicht, dass das auch bei einem negativen Ausgang des Referendums so gehandhabt würde. Die EU würde wohl relativ schnell reagieren und man müsste dann verhandeln», gibt die Expertin zu Bedenken.

«Die EU lässt eine solche ‹Rosinenpickerei› nicht zu»

Neue Verträge müssten dann erst mal verhandelt werden – wenn die andere Seite dies wolle, zwingen könne man sie ja nicht. Dabei sei es sicher nicht so, dass man «genehme» Teile des Schengen-/Dublin-Abkommens einfach weiter behalten könne. «Die EU lässt eine solche ‹Rosinenpickerei› nicht zu», so Progin-Theuerkauf.

Beim Brexit habe man gesehen, dass solche Verhandlungen viel Zeit bräuchten und mit grosser Unsicherheit verbunden seien. Das Fazit der Expertin: «Es lohnt sich nicht, wegen einer vergleichsweise minimen Weiterentwicklung von Frontex dies alles aufs Spiel zu setzen.»

Den Blick über den Ärmelkanal kann sich die Schweiz eigentlich auch sparen. Am gescheiterten Rahmenabkommen hat sie 15 Jahre selber zu spüren bekommen, wie sich Verhandlungen mit der EU anfühlen. Die berühmten Rosinen kamen dabei auch mehr als einmal vor.