Das Parlament entschied: Erben müssen in Zukunft Ergänzungsleistungen an den Staat zurückzahlen. Kritiker finden, die Spar-Idee sei ein Tabubruch.
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Angebote des betreuten Wohnens sollen im Kanton St. Gallen auch für Personen zugänglich werden, die Ergänzungsleistungen beziehen. - dpa-infocom GmbH
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Das Wichtigste in Kürze

  • Wer Ergänzungsleistungen bezieht, vererbt diese seinen Angehörigen als Schulden.
  • Kritikern stösst dieser Paradigmenwechsel sauer auf, da er der Grundidee widerspreche.

Ergänzungsleistungen EL sollen ärmeren Menschen das Existenzminimum sichern, wenn die Pension im Alter nicht reicht. Mit AHV, IV bilden die EL das soziale Fundament der Schweiz. In der Bundesverfassung sind sie als Grundrecht definiert: «Wer in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich zu sorgen, hat Anspruch auf Hilfe und Betreuung. Und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind.»

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Die Kosten für die Ergänzungsleistungen haben sich in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt. - Pixabay

12,5 Prozent der Pensionierten sind in der Schweiz auf EL angewiesen. Das für die EL relevante Existenzminimum ist deutlich höher als wenn jemand Sozialhilfe beziehen muss. Der EL-Grundbedarf liegt bei 1620 Franken, das Sozialhilfe-Minimum bei 990 Franken. Wer ein Eigenheim besitzt, darf dieses behalten, solange er selbst darin wohnt.

Sozialleistungen müssen erstmals teilweise zurückbezahlt werden

Das Parlament hat nun einen Paradigmenwechsel beschlossen, um jährlich 150 Millionen Franken zu sparen. EL müssen zurückgezahlt werden.

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Einfamilienhäuser stehen im Rohbau (Symbolbild). Die EL können zehn- oder gar hunderttausende Franken betragen. - dpa-infocom GmbH

Erbt ein Kind ein Haus von Eltern, die Ergänzungsleistungen beziehen, muss es alles über 40'000 Franken an den Staat abgeben. Das heisst: Das Haus behalten und die Differenz aus der eigenen Tasche zurückbezahlen. Oder das eben geerbte Haus verkaufen, um die «Schulden» der Eltern zu begleichen.

Auf die Angelegenheit gibt es zwei Perspektiven. Erstens, die Sicht der Mehrheit des Parlaments. Alle Parteien hatten Ja gesagt zum Vorschlag von CVP-Nationalrätin Ruth Humbel.

«Ja gibt es denn ein Menschenrecht auf Erbschaft?», fragt sie auf die Frage der «10vor10»-Reporterin, ob künftig der Mittelstand nicht mehr vererben soll.

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Mitte-Nationalrätin Ruth Humbel Näf - Keystone

«Das gibt es eben nicht», antwortet sie. Ergänzungsleistungen seien Steuergelder. Es müsse verhindert werden, dass diese Steuergelder Erbschaften subventionieren, so Humbel. «Sie können das geerbte Häuschen behalten, wenn sie die EL zurückbezahlen können.»

Jene Kinder von Menschen also, die im unteren Mittelstand lebten und EL beziehen mussten, um auf das Existenzminimum zu kommen.

Ergänzungsleistungen neu auf Pump?

Eine andere Sicht hat Anne-Sylvie Dupont, Professorin für Sozialversicherungsrecht an der Uni Neuenburg. Sie bemängelt gegen «10vor10», dass es weder eine Vernehmlassung noch öffentliche Debatte zur Gesetzesänderung gab.

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Benachteiligt seien Menschen der unteren Mittelklasse, sagt Sozialversicherungsrechts-Forscherin Anne-Sylvie Dupont. - Keystone

Mit den EL sollen alle Menschen in der Schweiz auf ein Existenzminimum kommen. Thomas Gächter, Professor für Sozialversicherungsrecht Uni Zürich, erklärt den Unterschied zur Sozialhilfe, welche zurückgezahlt werden muss: «Die EL gehört zum Drei-Säulen-Konzept. Und dort ist in der Verfassung die Idee, dass man einen unbedingten Anspruch hat und nicht nur einen Vorschuss.»

Die Experten sind sich einig: Künftig werden Pensionierte EL-Bezüger ihr Eigenheim rechtzeitig an ihre Kinder vererben. Und sich so arm machen oder Schulden anhäufen, bis der Staat nichts mehr holen kann. Ob Ruth Humbel und die Parlamentsmehrheit soweit gedacht haben?

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