Durch die Erinnerung an seinen 100. Todestag ist Kafka medienpräsenter denn je. Zeit für eine Retrospektive auf ein ganzes Jahrhundert mit seinen Texten.
franz kafka
Ein Bild von Franz Kafka im Memory and Tolerance Museum in Mexico City im Jahr 2010. - keystone/AP/Miguel Tovar

Das Wichtigste in Kürze

  • Vor 100 Jahren starb Franz Kafka, ohne publiziert zu haben, in einem Sanatorium bei Wien.
  • Der tschechische Schriftsteller wurde nur 40 Jahre alt.
  • Erst sein Freund Max Brod veröffentlichte Kafkas Texte posthum.
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Franz Kafkas Erzählungen und Romane zählen zum Kanon der Weltliteratur – und inspirieren Filme und Comics. Er selbst durfte das nicht mehr erleben. Am 3. Juni 1924 starb Kafka mit 40 Jahren an Tuberkulose.

Wenn Franz Kafka heute durch sein Prag laufen würde, käme er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Da fährt eine Strassenbahn, verziert mit Zitaten aus seinen Texten. Dort dreht sich eine elf Meter hohe, tonnenschwere Skulptur seines Kopfes. In einer Galerie läuft eine Ausstellung namens «Kafkaesk» und in den Buchhandlungen der tschechischen Hauptstadt kaufen Touristen seine Bücher in allen Weltsprachen.

Als Kafka vor 100 Jahren, am 3. Juni 1924, in einem Sanatorium in Kierling bei Wien starb, war er vom Weltruhm weit entfernt. Seine Romanfragmente «Der Prozess», «Das Schloss» und «Der Verschollene» waren unveröffentlicht geblieben. Dass wir diese Werke heute bewundern können, haben wir einzig Kafkas engem Freund Max Brod zu verdanken. Er ignorierte den letzten Willen des Schriftsteller-Kollegen: Kafka wollte, dass Brod alles restlos verbrennen sollte.

Kafka präsent in Fernsehen, Kino und Theater

Anlässlich des 100. Todestags ist Kafka in Fernsehen, Kino und Theater so präsent wie lange nicht mehr. «Kafka wäre schockiert, wenn er miterleben könnte, was im Moment passiert», sagte sein Biograf Reiner Stach vor wenigen Tagen auf der Prager Buchmesse. Kafka habe sich am Ende seines Lebens als einen gescheiterten Schriftsteller betrachtet, weil er viele Fragmente hinterlassen und keinen seiner Romane zu Ende geführt habe. «Wenn er das jetzt erleben würde, das würde seine Bilanz völlig auf den Kopf stellen», sagte Stach.

Kafkas Hauptwerk «Der Prozess» beginnt mit einem der berühmtesten ersten Sätze der Weltliteratur: «Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.» Gleich von Anfang an wird der Leser hineingezogen in eine rätselhafte Justizwelt.

Warum wird Josef K. verhaftet? Warum darf er trotzdem zur Arbeit ins Büro gehen? Doch statt wie ein Kriminalroman auf eine Auflösung zu setzen, wird hier alles mit jeder Seite noch merkwürdiger – bis hin zur Hinrichtung in einem Steinbruch.

Marxismus und Zionismus als Schlüssel zum Textverständnis

«Der Prozess» ist zum 100. Todesjahr in einer neuen kommentierten Ausgabe erschienen, herausgegeben vom Kafka-Experten Stach. Dieser hält sich an Originalschreibweisen wie «verläumdet» statt «verleumdet». Er geht auf religiöse und psychologische Deutungen des Textes ein – nur um zu dem Schluss zu kommen, dass sich die Suche nach dem «einzig passenden Schlüssel zu diesem Roman» als Irrweg erwiesen habe.

Nach einem Schlüssel zum Verständnis der Texte von Kafka sucht auch Andreas Kilcher, Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der ETH Zürich. In seinem jüngst erschienen Buch «Kafkas Werkstatt. Der Schriftsteller bei der Arbeit» stellt er die Frage an den Anfang, wie Kafkas Texte funktionieren. Kilcher, der sein Buch zwei Jahrzehnte hat reifen lassen und unter anderem auch Anregungen von Reiner Stach einfliessen liess, geht von Kafka als aufmerksamem Zeitgenossen aus, der sich selbst als «gierigen» Leser bezeichnet habe.

Kafka habe demnach die wichtigen Diskurse um das Jahr 1900, etwa zur Psychoanalyse, dem Marxismus, Zionismus oder Okkultismus aufmerksam verfolgt und wie Bausteine oder Bruchstücke genutzt, aus denen er komplexe, gebrochene und verrätselte Texte gebaut habe.

«Komplett Kafka»

Hinter der düsteren Fassade der Texte verbirgt sich bei Kafka zudem oft beissender Humor. «War er eine Frohnatur?», wurde sein Wegbegleiter Max Brod einmal in einem Fernsehinterview gefragt. «Das ist zu viel gesagt! Er war nicht so depressiv, wie er heute gesehen wird, aber Frohnatur kann man ihn nicht nennen», lautete die subtile Antwort.

Es ist nur eine von vielen Szenen, die der Illustrator Nicolas Mahler mit scharfen Strichen in seiner Comic-Biografie «Komplett Kafka» wiedergibt. «Durch seine herausragende Beobachtungsgabe und seine Fähigkeit, Dinge aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen, gibt es in seinen Schriften viele komische Momente», sagt Mahler. Sein Ziel sei es gewesen, die humoristischen Elemente bei Kafka herauszuarbeiten, ohne eine Parodie zu produzieren.

Entgegen kam Mahler, dass Kafka ein weniger bekanntes Talent besass. «Kafkas Zeichnungen habe ich lange studiert. Und in meine eigenen Zeichnungen einfliessen lassen.»

Ein «grausames Paradox»

Von Kafkas Geburtshaus unweit des Prager Altstädter Rings ist heute nur noch das Eingangsportal erhalten, das beim Wiederaufbau nach einem Brand Verwendung fand. Die deutsch-jüdischen Eltern des Schriftstellers betrieben ein Kurzwarengeschäft und kämpften um den sozialen Aufstieg. Auf Kafka lag die Bürde des einzigen Sohnes, der Jura studierte und später in der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt für das Königreich Böhmen arbeitete. Nur die Freizeit – und oft ganze Nächte – widmete Kafka seiner eigentlichen Passion, dem Schreiben.

Es ist die Tragik seines Lebens, dass der ewige Junggeselle erst kurz vor seinem Tod im Alter von nur 40 Jahren die Frau fand, die wirklich zu ihm zu passen schien. Es war Dora Diamant, die Kafka in einem jüdischen Ferienlager in Graal-Müritz kennenlernte. Sie stammte aus der Gegend um Lodz. Die Welt der orthodoxen Ostjuden faszinierte Kafka.

Dora hat den unheilbar an Tuberkulose Erkrankten in seinen letzten Wochen in Kierling begleitet. Die Kehlkopftuberkulose machte das Schlucken am Ende schmerzhaft und fast ganz unmöglich. Dennoch arbeitete Kafka noch am Tag vor seinem Tod an der Korrektur der Druckfahnen für seine Erzählung «Der Hungerkünstler». Ein «grausames Paradox» nennt Stach das in seiner Kafka-Biografie: «Die Geschichte eines Menschen, der nicht mehr essen will, aufgezeichnet von einem Menschen, der nicht mehr essen kann.»

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