Der US-Autor Joshua Cohen über Politik als Unterhaltung
Der amerikanische Pulitzer-PreisträgerJoshua Cohen gastiert am Literaturfestival Leukerbad mit seinem Essayband «Aufzeichnungen aus der Höhle».

Der amerikanische Pulitzer-Preisträger Joshua Cohen ist am Wochenende Gast am Literaturfestival Leukerbad. In seinem Essayband «Aufzeichnungen aus der Höhle» reflektiert er sein eigenes Lesen, die amerikanisch-jüdische Diaspora oder die Gedankenmanipulation durch das Internet. Ein Gespräch.
Joshua Cohen ist derzeit viel unterwegs. Mitte Mai war er im Jüdischen Museum Berlin an der Eröffnung einer Ausstellung beteiligt, dann war er in Tel Aviv und nun kommt er ans Literaturfestival Leukerbad (20. bis 22. Juni). «Wenn ich ein anderes Land bereise, suche ich jeweils ein billiges Klatschmagazin voller Prominenter, die ich nicht kenne. Es ist immer schön zu entdecken, dass irgendwo jemand berühmt ist, von dem ich noch nie gehört habe. Das lässt die Welt grösser erscheinen», erzählt er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.
Ruhm und Literaturpreise nehme er nicht allzu ernst. Essays schreibe er, «um in den Dienst von etwas zu treten: für jene, die lesen oder für eine verstorbene Person, deren Literatur ich gerne gelesen habe, oder für eine bestimmte Idee, die mich interessiert, für etwas, das ich verteidigen möchte – oder das ich zerstören will».
Der Band «Aufzeichnungen aus der Höhle» ist eine Auswahl aus rund 20 Jahren Schreibtätigkeit, die Cohen gemeinsam mit seinem deutschsprachigen Übersetzer Jan Wilm getroffen habe. In auffallend vielen Essays reflektiert er europäische Literatur, etwa Franz Kafka, Stendhal, Gregor von Rezzori oder Bohumil Hrabal. «Amerikaner sind berüchtigt, dass sie erschreckend wenig wissen über übersetzte Literatur. Ein echtes Defizit. Ich bin eine der wenigen Personen, die regelmässig über übersetzte Literatur schreiben – in meiner festen Kolumne im ‹Harper’s Magazine› oder im jüdischen Magazin ‹Forward›.»
Joshua Cohen reflektiert Kafkas «unmögliche Situation»
Im Essay «Gedanken zu Kafka» beschreibt Cohen beispielsweise, wie er in Jerusalem angesprochen wird auf die Kafka-Übersetzung, die er gerade liest. Auf die Frage, worum es darin ginge, antwortet das Ich verkürzt, «um eine unmögliche Situation» und ärgert sich über den eigenen ausländischen Akzent im Hebräischen und dass es unter den gegebenen Umständen klingt, «als würde ich einen journalistischen Euphemismus für den Konflikt zwischen Israel und Palästina zitieren».
Die eigene jüdisch-amerikanische Identität ist einer von mehreren Roten Fäden, der sich durch den Band zieht. Wenn er «über Donald Trump und den Untergang von Atlantic City» schreibt, schärfe seine jüdische Aussenseiter-Perspektive die Wahrnehmung auf die amerikanischen Widersprüche: Der Essay erzählt Cohens Kindheit, von Strassenzügen, Casinos, aber auch von der Fiktion Amerikas und der demokratischen Welt, dass wir alle gleich seien und es eben überhaupt nicht sind.
Die USA sind für Cohen eine Geschichte von weisser Einwanderung und von Sklaverei. «Beide Geschichten sind zweifellos wichtig, aber die Debatte, welche dieser Geschichten am Ende als überlegen dastehen darf, ist ein Nullsummenspiel. Atlantic City dreht sich um all diese tief-brodelnden Kräfte, Gefühle, Triebe und Sehnsüchte, die dem Trumpismus zugrunde liegen», so Cohen im Gespräch.
Oder der Essay über Cohens Lektüre von Jared Kushners Memoiren im Jahr 2022: Er bezeichnet den Inhalt als «prose-washing», also Fiktion zur Imagepflege. Auch diverse weitere Texte beobachten ein solches «Storytelling» und die theatralen Mittel der Politik. Rechtspopulistische amerikanische Newsplattformen nennt Cohen «kontrafaktische Fanfiction-Sendeplattformen».
Joshua Cohen über Verantwortung und Realität in der Sprache
Als Schriftsteller fühle er sich der Sprache verpflichtet, wie er betont: «Ich fühle mich verantwortlich – gegenüber den Lesenden, was den Stil angeht, oder gegenüber einer Idee. Es ist unmöglich, etwas realistisch zu beschreiben, und jeder Schriftsteller muss sich an dieser Unmöglichkeit abarbeiten – genauso wie es für Journalisten unmöglich, aber unerlässlich ist, Unparteilichkeit anzustreben.»
Diese journalistischen Prinzipien vermisst er aktuell: «Das Beunruhigende ist, dass die meisten journalistischen Organe politische Organe sind – aber das ist eine alte Geschichte. Neu ist jene Geschichte, die die Politik selbst für uns entwickelt – mit Handlungen und Wendungen, die wie Unterhaltung konsumiert werden sollen, als hätten sie keine Konsequenzen über Leben und Tod.»
Das Gespräch mit Keystone-SDA führte Cohen von Tel Aviv aus (am 05.06.), keine 100 Kilometer entfernt von einem völlig zerstörten Gaza. Der aktuellste Essay im vorliegenden Band ist eine Collage von Tagebucheinträgen aus der Zeit Ende 2023 – eine unmittelbare und vielschichtige Reaktion auf das Massaker am 7. Oktober.
Dort heisst es beispielsweise: «Ein interessanter Aspekt daran, Joshua Cohen zu heissen, ist, dass es immer jemand anderen gibt, der Joshua Cohen heisst und offene Briefe zu Israel unterzeichnet.» Der Essay endet in Gaza, welches laut Cohen zum Teil aus der Hamas bestehe, doch der grösste Teil seien junge Menschen, «die aufgrund von Versagen verzweifelt sind, die missbraucht und vernachlässigt wurden und die voranstürmen, weil sie nirgendwo anders hin können, als vor die Waffen, die nichts anderes tun können, als zu schiessen».
Cohen gegen die «universelle Ungeduld»
Mit seiner präzisen Sprache und seinen analysierenden und trotzdem empathischen Beobachtungen stemmt sich Cohen gegen etwas, was er einmal die «nahezu universelle Ungeduld der Gegenwart» nennt und er zelebriert einen Willen zur Mehrdeutigkeit, den er einer mitteleuropäischen Tradition zuschreibt.
Einer der für Cohen wichtigen Figuren aus dieser Tradition ist der Verleger Salmon Schocken, dem das Jüdische Museum in Berlin aktuell eine Ausstellung widmet. Schocken sei mit seinen Büchern laut Cohen mitverantwortlich für die Übertragung des europäischen Denkens nach Amerika und die Verpflanzung der demokratisch-liberalen Idee nach Israel, nicht zuletzt durch den Kauf der bis heute linksliberalen Zeitung Haaretz. Cohen schrieb für die Ausstellung diverse Texte und stellt sein Schreiben auch hier in den Dienst dieses verstorbenen Verlegers und von dessen Idee, die er verteidigen möchte.*