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Zürich: Solidarische Landwirtschaft – die Blütezeit ist vorbei

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Zürich,

Gemüse-Abos und solidarische Landwirtschaft erlebten während Corona ein Hoch. Heute kämpfen mehrere Projekte mit finanziellen Problemen – es fehlen Mitglieder.

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Die Felder, auf denen «Pura Verdura» gärtnert, gehören der Stadt Zürich. - Tsüri.ch / Isabel Brun

Das Wichtigste in Kürze

  • Während der Pandemie erlebte die sogenannte solidarische Landwirtschaft einen Boom.
  • Mittlerweile ist es für Anbieter jedoch schwierig geworden, Mitglieder zu halten.
  • Viele, die ein Abo haben, wollen oder können bei der Feldarbeit nicht mithelfen.

Noe Schlatter kommt übers Feld gewatet. Seine Schuhe verursachen bei jedem Schritt ein schmatzendes Geräusch. Als Gärtner ist Schlatter die Laune der Natur gewohnt, entsprechend gut ausgerüstet ist er für den Nieselregen.

Seit 2020 arbeitet der Stadtzürcher für die Gemüsegenossenschaft «Pura Verdura», die sich der solidarischen Landwirtschaft verschrieben hat. Bei dem Konzept bezahlen Mitglieder einen Jahresbeitrag und helfen bei der Produktion mit, um im Gegenzug Lebensmittel direkt vom Hof oder Feld zu erhalten.

Weil ihnen jedoch Mitglieder fehlen, mussten Schlatter und die anderen beiden Gartenkräfte ihre Pensen reduzieren. Von den budgetierten 180 Ernteanteilen hätten sie per Ende Jahr lediglich 160 erreicht, erklärt er – bei Abo-Beträgen von bis zu 1740 Franken pro Jahr eine Differenz, die durchaus ins Gewicht fällt.

Schlatter und sein Team sind nicht die Einzigen, die Mühe haben, genügend Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner für die Arbeit auf dem Acker zu begeistern; auch andere Solawi-Projekte in Zürich sehen sich aktuell mit dem Problem konfrontiert. Gleichzeitig formieren sich neue Initiativen.

Der Selbstversorger-Traum

Die Idee, Landwirtschaft gemeinschaftlich und ökologisch nachhaltig zu betreiben, ist nicht neu. In Japan gab es das Konzept bereits ab den 60er-Jahren unter dem Namen «Teikei». Dabei teilten sich mehrere Haushalte einen landwirtschaftlichen Betrieb, um sich selbst versorgen zu können. Als Gegenbewegung zur Agrarwirtschaft, die immer mehr Einfluss auf die Lebensmittelindustrie gewann.

Auch in Europa gab es solche Bestrebungen. 1978 entstand in Genf die Kooperative «Jardins de Cocagne» (zu Deutsch «Schlaraffengärten») als erste Solawi der Schweiz.

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Noe Schlatter unterstützt die Mitglieder bei der Arbeit auf dem Acker. - Tsüri.ch / Isabel Brun

Bis das Konzept jedoch nach Zürich gelangte, mussten mehrere Jahrzehnte vergehen: Erst 2011 gründete sich aus vier Einzelinitiativen der Verband «Regionale Vertragslandwirtschaft» in Altstetten. Seither nimmt die Zahl stetig zu: Heute existieren fast ein Dutzend Solawi-Projekte in der Region Zürich.

«Pura Verdura» startete im Jahr 2019, einige Monate bevor die Coronapandemie ausbrach. Danach erlebten viele Solawis in der Schweiz einen Boom. «Die Menschen hatten zum einen mehr Zeit, weil sie ihren Hobbys durch den Lockdown nicht nachgehen konnten.

Zum anderen erkannten viele, dass unser Agrarsystem Fehler hat – von Überproduktion geprägt und vieles wird importiert », sagt Christoph Benner von «Pura Verdura».

Durch ihr Mitwirken in einem solidarisch organisierten Landwirtschaftsbetrieb etwas verändern zu können, sei bei vielen der Hauptgrund, weshalb sie sich für eine Mitgliedschaft entscheiden.

Ackern gegen die Anonymität

Bettina zieht einen Lauch aus dem Boden und legt ihn in die grüne Kiste zu seinesgleichen. Ihre Regenhose ist voller Schlamm, die Kapuze hat sie tief ins Gesicht gezogen. Das schlechte Wetter mache ihr nichts aus, sie sei gerne draussen in der Natur.

Mindestens 32 Stunden pro Jahr muss Bettina für ihr Abo auf dem Acker stehen oder beim Abpacken helfen, um während der Saison wöchentlich drei Kilogramm Gemüse zu erhalten. Dafür zahlt sie jährlich 1265 Franken.

Sich grösstenteils von Lebensmitteln aus der Region ernähren zu können, erfülle sie: «Umso schöner ist es, wenn man sein Essen selbst gesät und geerntet hat.»

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Geerntet wird bei fast jedem Wetter – nur selten werden Arbeitseinsätze wegen schlechten Wetters abgesagt oder verschoben. - Tsüri.ch / Isabel Brun

Während Bettina dem Regen auf dem Feld trotzt, packen drei andere Mitglieder im nahe gelegenen Lager Salat ab. Zwei von ihnen sind seit den Anfängen dabei. Sie schwärmen vom Prinzip der solidarischen Landwirtschaft und der Community.

«Es geht um mehr als das Gemüse», so die Dritte im Bunde, die vor eineinhalb Jahren zu «Pura Verdura» gestossen ist. Es gehe auch darum, in einem Quartier etwas bewirken zu können und ein Umfeld zu schaffen. Etwas, das in der Anonymität der Stadt oft zu kurz komme.

Ideologisch um jeden Preis?

Obwohl viele die Vorteile solidarischer Landwirtschaft erkannt haben, gebe es immer wieder Abgänge, so Christoph Benner. Die Gründe seien unterschiedlich, doch einer werde besonders häufig genannt: zu knappe Zeitressourcen. «Es ist halt einfacher, kurz in einen grossen Detailhändler zu gehen und alle Produkte, die man zum Leben braucht, auf einmal zu kaufen.»

Diesen Punkt nennt auch Sven Braunsdorf von «Meh als Gmües». Die Gemüsegenossenschaft bewirtschaftet seit 2016 mehrere Felder in Zürich-Affoltern.

Vergangenes Jahr versuchte man den nächsten Wachstumsschritt und plante, die Abos, die auch als Ernteanteile bezeichnet werden, von 300 auf 320 zu erhöhen. Doch der Plan scheiterte, weshalb nun eine Gartenkraft entlassen werden musste. Es sei sehr zäh, neue Mitglieder zu finden, so Braunsdorf.

Doch er glaubt nicht, dass es an den fehlenden finanziellen Mitteln der Stadtbewohnerinnen und Stadtbewohner liegt: «Wir sind es einfach gewohnt, Preise für Lebensmittel zu bezahlen, die unter ausbeuterischen Bedingungen hergestellt wurden.» Mit dem Umdenken tue man sich schwer. Umso wichtiger sei es, die breite Bevölkerung darüber aufzuklären, dass das Konzept solidarischer Landwirtschaft zukunftstauglich ist, sagt der Gärtner.

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In den Wintermonaten besteht das Angebot bei «Pura Verdura» hauptsächlich aus Wurzelgemüse und Salat. - Tsüri.ch / Isabel Brun

Deshalb prüft man nun, auch ein Abo-Modell für jene anzubieten, die zwar solidarische Landwirtschaft unterstützen, aber weniger Arbeitseinsätze leisten wollen oder können. Widerspricht das nicht der Ideologie?

«Natürlich geht es im Grundsatz darum, auch mitzuhelfen», so Braunsdorf. Doch eigentlich sei man aktuell um jedes Mitglied froh. Auch bei «Pura Verdura» gibt es ab diesem Jahr neu ein «stilles» Abo, das zwar mehr kostet, aber keine Mitarbeit auf dem Feld verlangt.

Nicht nur Gemüse

Andere Initiativen in der Region Zürich, die nach diesem Konzept arbeiten, haben ebenfalls Mühe, alle ihre Abos wegzubekommen: Sechs der neun angefragten Solawis suchen aktuell noch nach Abnehmerinnen und Abnehmer. Das zeigt eine nicht repräsentative Umfrage von «Tsüri.ch». Darunter auch der Stadtrandacker – ehemals «Pflanzplatz Dunkelhölzli» – oder die Hofkooperative «Ortoloco», die schon seit den Anfängen dabei sind.

Letztere hat vor drei Jahren einen Landwirtschaftsbetrieb in Dietikon übernehmen und so ihr Angebot erweitern können. Neben Gemüse können Genossenschafterinnen und Genossenschafter seither auch Getreide, Obst, Eier, Fleisch, Öl oder Tee beziehen. In der Vergrösserung sieht Christian Vetter von «Ortoloco» den Hauptgrund für die freien Abo-Plätze. Er gibt sich zuversichtlich, dass sich diese bis Ende Jahr noch füllen werden.

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Ein Teil des Lagers von «Pura Verdura» befindet sich in Altstetten. Von dort aus werden die Gemüsetaschen an mehrere Depots in der Stadt verteilt. - Tsüri.ch / Isabel Brun

Christoph Benner vermutet, dass eine der Lösungen in einem breiteren Angebot liegen könnte: «Je mehr Produkte die Menschen von einem Betrieb beziehen können, desto attraktiver wird das Projekt potenziell für sie.» Bei «Pura Verdura» sieht man noch keinen Anlass zum Aufstocken. Regelmässige Umfragen bei Mitgliedern würden zeigen, dass sie mit dem angebotenen Sortiment zufrieden seien, so der Kommunikationsverantwortliche.

Halten Sie die solidarische Landwirtschaft für ein zukunftsfähiges Konzept?

Bis sich das Konzept der solidarischen Landwirtschaft etabliert hat, wird der Markt hart umkämpft bleiben. Zumal das Angebot trotz noch begrenzter Nachfrage weiterwächst: Auf dem Huebhof in Schwamendingen entsteht seit zwei Jahren eine neue Solawi und der Beckihof in Höngg vergibt ab diesem Jahr eine kleine Anzahl Abos.

Zurück auf dem Feld neben dem Quartierhof Wynegg gönnt man sich eine kleine Pause, trinkt aus Thermosflaschen. Noe Schlatter setzt sich auf den Rand des Autokofferraums. Einige der grünen Kisten sind bereits mit Salat gefüllt, bereit, um abgepackt und in den Küchen dieser Stadt verarbeitet zu werden. Der Regen hat nachgelassen, im Hintergrund lichtet sich der Himmel.

***

Hinweis: Dieser Artikel ist zuerst bei «Tsüri.ch» erschienen. Autorin Isabel Brun ist (Klima-)Redaktorin beim Zürcher Stadtmagazin.

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