Neue Zahlen zeigen: In der Schweiz geht die Lohnschere immer mehr auf – insbesondere ganz oben. Das steckt dahinter.
Bankomat
Das Thema Lohn sorgt immer wieder für Diskussionen. Mit dem neuen SGB-Bericht erhält die Debatte neuen Aufwind. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Die Lohnschere in der Schweiz geht immer mehr auf.
  • Man müsse die Zahlen richtig einordnen, sagen Ökonomen.
  • Der «Sündenbock» schlechthin ist zudem schwierig zu ermitteln.
Ad

Der neue Bericht zur Lohnverteilung hat für viel Aufsehen gesorgt: Tiefere Einkommen stagnieren, höhere dagegen steigen, so der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB).

Präsident Pierre-Yves Maillard sprach am Montag vor den Medien sogar von einem «verlorenen Jahrzehnt». Dieses droht laut dem Gewerkschaftsbund namentlich den Verdienenden von unteren und mittleren Reallöhnen.

SGB
Für Pierre-Yves Maillard ist klar: Die ungleiche Lohnverteilung muss uns Sorgen machen.
Sergio Ermotti
Top-Manager wie Sergio Ermotti verdienen Millionen – andere kämpfen schlicht ums Überleben.
SGB
Auch den 1. Mai nutzt der SGB, hier mit Chefökonom Daniel Lampart, um höhere Löhne zu fordern.

Über mögliche Gründe für die zunehmenden Lohnunterschiede wird hitzig diskutiert. Die Gewerkschaftler machen die Arbeitgeber dafür verantwortlich. Der Arbeitgeberverband sieht das Problem eher in der wirtschaftlichen Situation – genauer gesagt in der Inflation. Dafür könne man als Unternehmen nichts.

Was stimmt wirklich?

Nau.ch hat bei Ökonomen nachgefragt, wie sie die sich öffnende Lohnschere einordnen und wer verantwortlich dafür ist.

Top-Verdiener ziehen davon

Zunächst einmal lohnt es sich, die Zahlen genauer anzuschauen. Michael Siegenthaler, Arbeitsmarktforscher an der Konjunkturforschungsstelle KOF der ETH, hält gegenüber Nau.ch fest: «Die Löhne ganz am oberen Ende sind überdurchschnittlich gewachsen.»

Derweil sei die Lohnentwicklung bei den unteren 90 Prozent aber grösstenteils ausgeglichen. Die tieferen Einkommen haben also mit den mittleren und relativ hohen Einkommen mithalten können. Einzig die Top-Verdiener seien «davongezogen».

Sind die Lohnunterschiede in der Schweiz zu gross?

Ökonom Volker Grossmann von der Universität Freiburg nennt noch einen weiteren Aspekt: Die Lage für Leute mit tieferem Einkommen sei wohl noch schwieriger, als es der Bericht vermuten liesse.

Denn der Einfluss der Inflation auf die niedrigeren Reallöhne werde unterschätzt. Grossmann erklärt: «Gerade bei Wohnungsmieten und Lebensmittel gab es in den letzten zwei Jahrzehnten überdurchschnittliche Preissteigerungen.» Diese würden die ärmere Hälfte deutlich stärker treffen. Die für die Berechnungen verwendete Durchschnittsinflation verzerre das Bild also etwas.

Es ist jedenfalls unbestritten, dass die Löhne der absoluten Top-Verdiener stärker angestiegen sind als die tieferen Löhne. Bleibt die Frage, woran das liegt.

Freie Marktwirtschaft oder übertriebene «Boni-Kultur»?

Grossmann sagt, dass es sich um ein internationales Phänomen in reichen Industrieländern handle. «Das hat einerseits mit technologischem Fortschritt und mit Outsourcing von Tätigkeitsfeldern, die geringer qualifizierte Arbeitnehmer machen, ins Ausland, zu tun.» Man könnte sagen, dass insbesondere die ersten zehn Prozent vom Wirtschaftswachstum profitieren.

Andererseits spiele der Fairnessgedanke aber ebenfalls eine Rolle. Laut Grossmann ist die Lohnverteilung nämlich auch von «sozialen Normen» geprägt. Heisst: Gesellschaftlich wird erwartet, dass man je nach Job sehr viel oder wenig verdient. Wenn nun die Lohnschere aufgeht, könnte das durchaus damit zusammenhängen.

«Es gibt schon die Möglichkeit, dass solche sozialen Normen erodieren und teils erodiert sind.» Also die Vorstellungen, wer wie viel Geld verdienen sollte, können sich mit der Zeit ändern.

Arbeit Schweiz
Nicht alle Menschen in der Schweiz verdienen durch ihre Arbeit gleich viel. - keystone

Die Digitalisierung und das Outsourcing nennt auch Siegenthaler als mögliche Ursachen und sagt: «Dadurch geraten insbesondere die mittleren Löhne in der Schweiz unter Druck.» Die Löhne hängen letztlich aber auch stark von Angebot und Nachfrage in den einzelnen Branchen ab.

Bei den Top-Verdienern gelten ohnehin andere Gesetze. Grossmann sagt: «Die Frage ist, ob bei den Top-Einkommen, wo die Löhne am stärksten gestiegen sind, wirklich nur Marktkräfte am Werk sind.» Verwaltungsbeiräte würden eine «Hochlohn- und Bonikultur» ermöglichen, von der nur wenige profitieren.

Bei den höchsten Löhnen sieht Siegenthaler ebenfalls die Arbeitgeber und die Aktionäre in der Pflicht: «Sie legen das Wachstum der Top-Saläre fest – und dabei gibt es durchaus Handlungsspielraum.»

So etwa bei UBS-Chef Sergio Ermotti, der 14,4 Millionen Franken in nur neun Monaten verdient.

Einfluss der Inflation ist fraglich

Das Argument der Teuerung hält Grossmann für «gar nicht plausibel». Die untere Hälfte der Löhne habe schon vor Corona oder dem Ukraine-Krieg stagniert.

Siegenthaler sagt, man müsse unterscheiden, wie die Inflation zustande kommt. Wenn die Teuerung aus dem Ausland importiert wird – eben beispielsweise, weil ein Krieg die Energiepreise erhöht – hätten auch die Unternehmen höhere Kosten. In solchen Fällen ist es für die Gewerkschaften schwieriger, einen Inflationsausgleich bei den Löhnen durchzusetzen.

Geld
Die Teuerung durch externe Faktoren hat die Situation in den letzten Jahren sicherlich nicht einfacher gemacht – auch für die Unternehmen nicht. - keystone

Die Lohnschere hat sich also vor allem mit Blick auf die Top-Einkommen geöffnet. Einen einzigen «Sündenbock» zu bestimmen, wäre allerdings falsch.

Ad
Ad

Mehr zum Thema:

DigitalisierungSergio ErmottiUkraine KriegLebensmittelInflationFrankenCoronavirusKriegUBS