Viele fordern, dass Noten abgeschafft werden, damit Schulkinder weniger Druck verspüren. Es geht aber auch anders, sagt Nau.ch-Kolumnistin Clarita Kunz.
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Clarita Kunz ist Nau.ch-Kolumnistin. - zvg

Das Wichtigste in Kürze

  • Immer wieder wird das Ende von Schulnoten gefordert. Kinder spürten dadurch zu viel Druck.
  • Dies ist aber gar nicht nötig, findet Nau.ch-Kolumnistin Clarita Kunz.
  • Unter einer Bedingung könnten Zensuren problemlos weiter bestehen.
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Noten schaden nicht, unter einer Bedingung: Schülerinnen und Schüler erhalten in den Fächern Deutsch und Mathematik die Freiheit und die Verantwortung, selbst über das Lerntempo zu bestimmen – auch das Schuljahr übergreifend!

Selber bestimmen, was man wann lernen will, dazu sind schon Vierjährige in der Lage. Lernende sollten sich in den genannten Selektionsfächern – analog zur Fahrprüfung – zur Prüfung eines bestimmten Themas anmelden dürfen, wenn sie dazu bereit sind.

Ist die Note ungenügend, darf die Prüfung wiederholt werden. So wird ersichtlich, wie gut jemand ein Thema verstanden hat.

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Kinder in einer Schule. (Symbolbild) - AFP/Archiv

Bei einer Vier oder einer besseren Note kann mit dem Stoff weitergefahren werden. Ist die Note eine Zwei oder Drei, wurde das Thema wohl noch nicht verstanden. Entweder braucht es nun kompetente Hilfe oder das Kind entscheidet sich, es selbst noch einmal anzugehen. Die neuen Lehrmittel erklären die Lerninhalte wunderbar anschaulich.

Zahlreiche Schülerinnen und Schüler würden diese ohne Anweisungen der Lehrpersonen verstehen. Aktuell braucht es zu viele Therapien, um beispielsweise Kinder mit einer Dyskalkulie zu unterstützen, aus dem einfachen Grund, weil diese einmal ein Thema wie das Einmaleins oder das Sortenrechnen nicht verstanden beziehungsweise nicht automatisieren konnten. Deshalb hinken sie andauernd hinterher und benötigen jahrelang Therapien und immer noch mehr Personal in den Schulzimmern.

Erhöhte Ressourcen sind gar nicht notwendig

Mehr Personal und mehr Geld für Schulen zu fordern, ist populär, aber unnötig, wenn Kinder im eigenen Tempo lernen dürfen. Es gäbe weniger unaufholbare Lücken!

Für Kinder, die vom Schulpsychologischen Dienst abgeklärt werden und zur Diagnose «Lese-/Rechtschreibschwäche» zuzüglich die Massnahme «Individuelle Förderung mit Lernzielanpassung» (IFmL) bekommen, schreibt die Heilpädagogin einfachere Prüfungen und Wochenpläne. Der Zusatz IFmL, der sowohl neben der Prüfungs- als auch neben der Zeugnisnote notiert wird, dokumentiert die Spezialbehandlung.

Die Bezeichnung zeigt an, dass dieses Kind grössere Lernschwierigkeiten hat. Die Note ist im Zeugnis «dank» der Lernzielanpassung genügend, also mindestens eine Vier. Was für eine Augenwischerei!

Die betroffenen Schülerinnen und Schüler wollen das überhaupt nicht, fühlen sich dadurch – zu Recht – nicht entlastet, sondern diskriminiert.

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Eine Lehrerin schreibt in einer Schule Rechenaufgaben an eine Tafel. (Symbolbild) - dpa

Dazu kommt: Der Arbeitsaufwand (Absprachen zur Ausgestaltung der Prüfungen, Benotung und so weiter) der Lehrpersonen und Heilpädagogen ist enorm hoch.

Aus lauter Verzweiflung darüber, dass so viele Lernende unter der Vergabe von Noten leiden und ein Viertel (!) die Mindestlernziele nicht erreicht, denken manche Lehrpersonen, es wäre besser, die Noten wegzulassen. Sie wagen es, während der Semester ohne Noten zu unterrichten.

Da die Vergabe von Zeugnisnoten in den Staatsschulen – Privatschulen sind von dieser Regelung ausgenommen – gesetzlich verankert ist, verlangen besorgte Eltern gegen Ende der Semester von den Lehrpersonen, dass sie gleichwohl Prüfungen durchführen, die benotet werden.

Noten sollen nicht schaden? So geht es!

Die Eltern wollen wissen, wie die Zeugnisnoten zustande kommen. Noten nur phasenweise auszusetzen, ist aber nicht zielführend. Damit Prüfungen nicht angepasst werden müssen und Noten nicht schaden, braucht es diese Voraussetzungen:

1. In Deutsch und Mathematik darf nicht mehr frontal unterrichtet werden, auch nicht mit Wochenplänen. Schülerinnen und Schüler sollen selbst bestimmen, wann und zu welchem Thema sie eine Prüfung schreiben.

Damit verlieren nicht nur die Noten ihren Schrecken, auch der übertriebene Wettbewerb im Klassenzimmer ist weniger spürbar. Es gibt weniger Stempel wie «Dummkopf» oder «Streber» und die Stimmung in den Schulen und zu Hause entspannt sich. Schüler auferlegen sich so mehr Druck, als dies jeglicher äussere Druck vermag!

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Ein Schulkind. (Symbolbild) - Nau.ch / Simone Imhof

Und: Sie lernen so schneller, mehr und mit nicht nachlassender Lernfreude. Hören wir auf Pestalozzi, der schon vor 200 Jahren warnte: «Vergleiche nie ein Kind mit einem anderen, sondern jedes mit sich selbst!»

2. Die Zeugnisnoten sind alle genügend, wie dies aufgrund der angepassten Lernziele bereits heute der Fall ist. Zusätzlich werden neben den Noten die Lernziele notiert, die bereits erreicht wurden. Diese Anpassung wäre sofort umsetzbar!

3. Weil Kinder, die über mehrere Jahre hinweg bevormundet werden, verlernen können, Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen, sollte Arbeiten in Lernlandschaften – also im eigenen Tempo – schon im Kindergarten ermöglicht werden.

Dies ist auch deshalb dringend notwendig, weil die Kompetenzen, die Vierjährige mitbringen, schon überaus stark divergieren – sowohl in Bezug auf die motorischen als auch auf die kognitiven Fähigkeiten. In Kindergärten und Schulen, die mit Lernlandschaften arbeiten, kann man sich davon überzeugen, dass das funktioniert.

Individualisierung als Schlüssel zur Inklusion

Schon Vierjährige wissen – meist noch unbewusst –, was sie interessiert, was sie können und was sie noch nicht können, und wählen angemessene Lernspiele und Arbeiten aus.

Die Über- und Unterforderungen der Schülerinnen und Schüler mit den gravierenden, teuren Folgeschäden – all das würde mit der genannten Individualisierung aufhören und die Integration aller Schülerinnen und Schüler in eine Klasse erlauben.

Glaubst du, dass Noten in der Schule noch zeitgemäss sind?

Auch die Integration von fremdsprachigen Kindern wäre möglich, ausser denjenigen, die überhaupt kein Deutsch sprechen. Diese würden weiterhin in sogenannten Auffangklassen Deutsch lernen, bis sie in der Lage sind, dem Unterricht zu folgen.

Heute sind die Einwandererkinder das grösste Problem des Schulsystems. Und auch das Umgekehrte trifft zu: Das Schulsystem ist das grösste Problem der Einwandererkinder.

Die Schweiz hat Anfang des 20. Jahrhunderts das weltweit beachtete und vielfach kopierte duale System eingeführt. Nun könnte sie erneut als leuchtendes Beispiel vorangehen und mit den hier vorgeschlagenen Massnahmen zeigen, wie Inklusion gelingen kann!

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Zur Autorin: Clarita Kunz ist Pädagogin, Autorin und seit 2021 Kolumnistin bei Nau.ch.

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