Marko Kovic: «Der Atomausstieg war ein Fehler!»

Marko Kovic
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Flawil,

«Der Ausstieg aus der Atomenergie war eine emotionale, und keine rationale Entscheidung», schreibt Marko Kovic in seiner Kolumne.

Marko Kovic
Marko Kovic schreibt regelmässig Kolumnen auf Nau.ch. - zVg

Das Wichtigste in Kürze

  • Der bekannte Sozialwissenschaftler Marko Kovic schreibt regelmässig Kolumnen auf Nau.ch.
  • Heute schreibt Kovic über Atomenergie.
  • Im deutschsprachigen Raum sei es fast unmöglich, rational über Atomenergie zu diskutieren.

Die Fukushima-Katastrophe im März 2011 war ein epochales Ereignis. Eine gigantische Flutwelle stürzte über das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi herein und führte zur Kernschmelze.

So etwas erlebte die Welt das letzte Mal 1986 in Tschernobyl. Doch dieses Mal war es anders. Damals in Tschernobyl fand der Unfall in der Sowjetunion statt; einem maroden, sich im Zerfall befindenden Imperium, das nur noch wenige Jahre überleben sollte.

Tschernobyl
1986: Tschernobyl wenige Tage nach der Explosion im Kernreaktor. - Keystone

Japan im Jahr 2011 war das diametrale Gegenteil davon: Ein technologisch hochmodernes Land, das weltweit für Disziplin und Zuverlässigkeit und saubere Planung bekannt war. Darum war Fukushima ein viel grösserer Schock als Tschernobyl.

Denn: Wenn Atomenergie nicht mal in Japan sicher ist, wo dann?

AKW-Verbot in der Schweiz

Fukushima führte zu einer grossen internationalen Meinungswende in Sachen Atomenergie. In mehreren Ländern, darunter der Schweiz und Deutschland, wurde sogar der Ausstieg aus der Atomenergie beschlossen. In Deutschland sind bereits alle Atomkraftwerke abgeschaltet worden. In der Schweiz gibt es ein Verbot für den Bau neuer AKWs.

Kernkraftwerk Fukushima
Das Kernkraftwerk Fukushima Daiichi. - dpa

Das ist für sich genommen natürlich in Ordnung. Jedes Land darf selbstbestimmt entscheiden, wie es Strom erzeugen will.

Das Problem ist aber, dass die Entscheidung für oder gegen AKWs nicht im luftleeren Raum stattfindet. Wie wir Strom erzeugen, hat nämlich einen grossen Einfluss darauf, ob wir Klimawandel eindämmen. Oder im Gegenteil sogar beschleunigen.

Findest du den AKW-Ausstieg in der Schweiz richtig?

Der Atomausstieg war in dieser Hinsicht ein grosser Fehler – und das Ergebnis einer unüberlegten Risikokalkulation. Wie es besser geht, zeigt China.

Falsche Risikokalkulation

Das zentrale Argument gegen Atomenergie ist, dass ein Unfall in einem AKW viel schlimmer als ein Unfall in einem Kohlekraftwerk oder mit einem Pumpspeicherwerk – oder mit einer Solaranlage oder anderen Stromquellen ist. Das stimmt grundsätzlich.

Bei einer Kernschmelze kann im Unterschied zu anderen Formen der Stromerzeugung gefährliche und lang anhaltende radioaktive Strahlung entweichen. Unter sonst gleichen Bedingungen ist es besser, wenn es weniger solcher Risiken gibt.

Aber die Realität ist kein «ceteris-paribus»-Szenario, sondern eine Abwägung von Risiken.

Eine klimafreundliche Form der Stromerzeugung

Der Nutzen von Atomenergie ist nämlich, dass sie eine sehr klimafreundliche Form der Stromerzeugung ist.

Darum wird Atomenergie unter anderem auch im Rahmen des «Weltklimarates» (IPCC) als eines der Mittel gegen Klimawandel ausdrücklich empfohlen. Wenn wir auf Atomenergie verzichten, um ihre Risiken zu vermeiden, erhöhen wir das Risiko von Klimawandel.

Solar- und Windenergie werden zwar laufend ausgebaut, aber fossile Brennstoffe sind in vielen Ländern immer noch eine wichtige Stromquelle. In Deutschland machten Kohle, Gas und andere Fossile im Jahr 2024 rund 41 Prozent des Strommixes aus.

Wie gefährlich ist Atomenergie effektiv?

Wäre Atomenergie noch Teil des deutschen Strommixes wie vor Fukushima, würden Kohle und Gas aktuell weniger als 20 Prozent ausmachen.

Wie machen wir die Abwägung zwischen den Risiken der Atomenergie und den Risiken des Klimawandels? Ausschlaggebend ist auch die Frage, wie gefährlich Atomenergie effektiv ist.

Hier zeigt sich ein überraschendes Bild: Atomenergie ist rein statistisch ähnlich sicher wie Solar- und Windenergie.

CCPI Rating
Wie gefährlich sind die Atomkraftwerke? - Keystone

Die Statistik widerspricht unserer Wahrnehmung von Atomenergie. Fukushima war eine monumentale Katastrophe. Aber: Die Katastrophe war in erster Linie eine Folge des Tsunamis. Rund 20’000 Menschen fielen der zerstörerischen Flut zum Opfer.

Demgegenüber gab es gemäss «United Nations Scientific Committee on the Effects of Atomic Radiation» (UNSCEAR) keine Todesfälle wegen Strahlenbelastung infolge der Kernschmelze.

Die grösste gesundheitliche Belastung im Rahmen der Kernschmelze war der Stress, den besonders ältere und kranke Menschen im Rahmen der Evakuation erlebt hatten. Damit will ich das Risiko von AKWs nicht trivialisieren. AKWs sind aber viel sicherer als wir gemeinhin denken.

Lokale Region ist betroffen

Entscheidend ist zudem, dass sie in eine andere Risikoklasse als Klimawandel fallen: AKWs sind in erster Linie ein lokales und additives Risiko, während Klimawandel ein globales und multiplikatives Risiko ist.

Wenn es zu einem Unfall in einem AKW kommt, kann sich Strahlung international verbreiten. Aber in erster Linie ist die lokale Region betroffen. Zudem führt ein Unfall in einem AKW nicht systemisch zu Unfällen in anderen AKWs. Das ist zentral.

Klimawandel ist im Kontrast dazu ein inhärent globales Risiko mit multiplikativem Charakter: Wenn das Risiko von Klimawandel steigt, steigen damit auch systemische Ungewissheiten und mögliche weltweite, drastisch negative Konsequenzen.

Diese Abwägung kann auch mit dem Konzept des Erwartungswertes beschrieben werden. Der Erwartungswert beschreibt das durchschnittliche Ergebnis, wenn eine Risikosituation hypothetisch unendlich oft mit allen Optionen durchgespielt wird.

AKW
Das AKW Gösgen in Däniken. - Nau.ch / Werner Rolli

Wenn wir hypothetisch stärker auf Atomkraft setzen, gibt es im Schnitt mehr Unfälle bei AKWs, dafür aber im Schnitt auch weniger ausgeprägten Klimawandel, weil wir schneller dekarbonisieren. Wenn wir Atomkraft reduzieren oder ganz auf sie verzichten, gibt es im Schnitt weniger bis keine AKW-Unfälle, dafür aber einen ausgeprägteren Klimawandel.

AKWs und Klimawandel sind unterschiedliche Risikoklassen – AKWs sind additiv, Klimawandel ist multiplikativ.

Die Konsequenzen ausgeprägteren Klimawandels sind viel gravierender als die Konsequenzen von mehr AKW-Unfällen (die für sich genommen selten sind). Darum ist der Erwartungswert einer Welt mit mehr Atomenergie positiver als der Erwartungswert mit weniger Atomenergie. Der Atomausstieg war angesichts dieser Risikotopologie ein Fehler.

China macht es vor

Menschen, die den Klimanutzen von Atomenergie anerkennen und trotzdem gegen Atomenergie sind, argumentieren manchmal mit dem Lock-In-Effekt von AKWs: Reduktion von Atomenergie bis hin zum Atomausstieg sei aus Sicht des Klimas doch gut, weil damit ein Anreiz geschaffen wird, intensiv in erneuerbare Energien, allen voran Solar und Wind, zu investieren.

Wenn man Atomenergie hat, wird zu viel Geld in teure AKWs gepumpt, das dann für Erneuerbare fehlt.

Diese Kritik hat was. Aber die Frage, in welche Energiequellen wir investieren, ist eine rein politische. Es gibt keinen inhärenten Widerspruch zwischen erneuerbaren Energien wie Solar- und Windkraft auf der einen, Atomenergie auf der anderen Seite. Das zeigt nicht zuletzt das Beispiel China.

Kein Widerspruch

China baut sowohl Atomenergie als auch erneuerbare Energien aus. Und stärkt damit insgesamt den Mix sauberer Stromquellen. China ist dabei in Sachen Atomenergie zur technologischen Vorreiterin geworden. Während die Kosten für AKWs im Westen in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen sind, sinken sie in China.

Damit will ich nicht sagen, dass wir grundsätzlich alles machen sollen, was China macht. Natürlich nicht.

China ist schlicht ein Beispiel dafür, dass Atomenergie kein Widerspruch zu erneuerbaren Energien ist. Atomenergie ist, wie auch der IPCC argumentiert, ein Beitrag zu Dekarbonisierung. Und eine Ergänzung zu erneuerbaren Energiequellen wie Solar- und Windenergie.

Politischer Bullshit

Es ist nicht nur, aber vielleicht besonders im deutschsprachigen Raum fast unmöglich geworden, rational über Atomenergie zu diskutieren.

Es geht in der politischen Debatte gar nicht mehr um Abwägung von Risiken und Nutzen. Atomenergie ist längst eine irrationale Demarkationslinie geworden.

Die Linken erkennen das grosse Risiko von Klimawandel korrekt, sind aber dogmatisch gegen Atomenergie, die hilft, dieses Risiko zu reduzieren.

Und Rechte bis weit Rechte verharmlosen Klimawandel oder leugnen ihn ganz, verteidigen handkehrum aber Atomenergie inbrünstig als nachhaltige Energiequelle.

Am Schluss verlieren wir alle

Wenn Alice Weidel Atomenergie als klimafreundlich anpreist, ihre Partei gleichzeitig aber menschengemachten Klimawandel leugnet, ist das ein kolossaler Witz. Und die Klimawissenschaft die Wissenschaftlichkeit abspricht und sich dafür einsetzt, die Nutzung fossiler Brennstoffe nicht einzuschränken.

Atomenergie ist nur eine der vielen wichtigen Fragen von heute, die zu einem Spielball politischer Theatralik geworden sind.

Differenziert über schwierige Themen nachzudenken, ist ganz allgemein immer weniger möglich. Und immer weniger erwünscht.

Grautöne geben nämlich weniger Aufmerksamkeit als einseitiges Schwarz-Weiss-Gepoltere.

Mit ideologisiertem Krawall ohne Rücksicht auf Vernunft kann man besser für das eigene Team punkten. Am Schluss verlieren wir so aber alle.

Zum Autor: Marko Kovic ist Gesellschaftskritiker. Er interessiert sich für gesellschaftlichen Wandel und die Frage, ob wir noch zu retten sind. Er lebt in Uzwil SG.

Kommentare

User #280 (nicht angemeldet)

Es geht ja auch um die Abfallentsorgung. Wer in der Schweiz schon mal eine Führung im Felslabor Mont Terri gemacht hat, wo geschaut wird, wie man den Atommüll endlagern kann oder eben auch nicht, nicht einfach. Und man müsste so bauen, dass kein Atomkraftwerk so wie Nine Eleven angegriffen werden könnte.

User #4664 (nicht angemeldet)

Huch, was machen jetzt die Antikovicmotzer, wenn er einen Artikel schreibt, der in ihrem Sinne ist. Ich hol mal Popcorn.

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