Gret Haller setzte sich auf all ihren politischen Positionen für die Gleichheit der Menschen ein. Eine Analyse von Europa-Wissenschaftler Felix Brun.
Felix Brun
Felix Brun spricht während seiner Buchvernissage zum Publikum. - zVg
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Das Wichtigste in Kürze

  • Europa-Experte Felix Brun kommentiert Texte bedeutender Schweizer Persönlichkeiten.
  • In diesem Artikel befasst er sich mit der ehemaligen Nationalratspräsidentin Gret Haller.

Gret Haller, ehemalige Nationalratspräsidentin und heutige Ehrendoktorin der Universität St. Gallen, kann an diesem Muttertag auf eine europäische Karriere zurückblicken, die ihresgleichen sucht.

Im Alter von 25 Jahren reicht Gret Haller in Zürich ihre Doktorarbeit zur Stellung der Schweizer Frau verglichen mit den UNO-Menschenrechtskonventionen ein. Sie benennt darin die Diskriminierung der Frau als eine Folge der Aufgabenteilung zwischen den Geschlechtern.

Gret Haller versteht Gleichheit als einen Imperativ, es ist nicht nur jeder Mensch als Mensch dem anderen gleich, er trägt auch die gleiche Verantwortung und hat damit das gleiche Recht auf gesellschaftliche Anerkennung und Entlöhnung.

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Die ehemalige Nationalratspräsidentin Gret Haller hält die Eröffnungsrede des «Public Eye»-Awards am Worlds Econoic Forum WEF am 25.01.06 in Davos - Keystone

Nach ihrer Dissertation arbeitet Gret Haller kurze Zeit beim Eidgenössischen Polizei- und Justizdepartement in Bern. Gleichzeitig wird sie politisch aktiv. 1976 wird sie in die Stadtberner Legislative, den Stadtrat gewählt. Ende 1984 schliesslich folgt die Wahl in den Berner Gemeinderat, dem Exekutivgremium der Stadt Bern.

Hier muss sie sich fortan als einzige Frau gegen sechs männliche Kollegen behaupten. Unvergessen bleibt ihre Auseinandersetzung um das Berner Hüttendorf «Zaffaraya»: Während sie den Dialog mit den Hüttenbewohnern suchen möchte, greift der Gemeinderat hart durch und löst das Hüttendorf gewaltsam auf. Zur Gewaltanwendung bei der Räumung des Areals sagt Haller kurz nach den Vorgängen in einem Interview: «Das ist Krieg.»

Dialog ist für Gret Haller die Basis jeder freien, demokratischen Gesellschaft. Wo noch diskutiert wird, da ist die Demokratie intakt. Dieser Dialog führt auch in die Zukunft: Mittels einer Diskussion kann die Zukunft demokratisch gestaltet werden.

Gret Haller
Die Parlamentsmitglieder Gret Haller,(l.) und Rico Jagmetti (r.) gratulieren sich gegenseitig am 29.11.93, nachdem Haller als Präsidentin für die grosse Kammer und Jagmetti als Präsident für die kleine Kammer vorgeschlagen worden sind. - Keystone

Als Gret Haller in den 1990er Jahren nach Stationen im Nationalrat – den sie im Legislaturjahr 1993/1994 präsidiert – und als Botschafterin beim Europarat als Ombudsfrau für Menschenrechtsfragen in Bosnien und Herzegowina nach Sarajevo berufen wird, wird sie bald einmal merken, dass ihre Forderung nach einem Dialog unter Gleichen, also einem Dialog unter rechtlich gleichen Bürgerinnen und Bürgern im neuen Staat Bosnien und Herzegowina schwierig umzusetzen ist. Die USA, neue Schutzmacht in Bosnien, setzen mit dem Dayton-Abkommen die Zeichen in eine ganz andere Richtung.

Das Abkommen festigte die alten ethnischen Grenzen in Bosnien und Herzegowina auch im Staatsaufbau und liess so einer übergeordneten staatspolitischen Identität wenig Platz. Für Gret Haller haben die USA im Abkommen von Dayton «die Möglichkeit eines europäisch verstandenen staatsbürgerlichen Bemühens der Citoyens und Citoyennes um das multiethnische Zusammenleben» verkannt.

Gret Haller wird zur «Europäerin»

In Sarajevo ist Gret Haller laut eigenen Angaben zur «Europäerin» geworden. Hier hat sie erkannt, was geschehen muss, dass verschiedene Religionen, Kulturen und Sprachen miteinander auf engstem Raum auskommen können. Es braucht Dialog, aber auch Offenheit und klare institutionelle Regeln.

In Abgrenzung zu der in den USA bis heute wichtigen Idee, dass man Mitglied einer Gemeinschaft sei, formuliert Gret Haller nach ihren Erfahrungen in Sarajevo einen Zukunftsentwurf für Europa: Sie sieht in der europäischen Integration das Entstehen einer neuen Form von «Staatlichkeit», im Sinne einer staatspolitischen Identität, einer Gleichheit, die über den Begriff der Nation hinausgeht.

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Gret Haller in ihrer damaligen Funktion als Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina, fotografiert am 05.05.97 in Sarajevo. - Keystone

In diesem Raum der europäischen Staatlichkeit unterscheidet man nicht in Mitglieder und Nichtmitglieder, man schliesst aus dieser Gemeinschaft keine Menschen aus, man unterscheidet nicht zwischen den «Guten» und den «Bösen», sondern man versteht sich als Gleiche unter Gleichen, als Menschen unter Menschen. Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet das für Gret Haller, dass auch Terroristen Menschenrechte haben.

Mit ihrer Idee der Gleichheit und gleichzeitigen Offenheit gelingt es Gret Haller in ihren jüngsten Texten, Europa auch als ein «Frauenprojekt» zu verstehen, ganz im Gegensatz zu den hypermaskulinen USA eines Donald Trump.

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«Sprechen wir über Europa»

Im Rahmen dieser Serie gibt Felix Brun, Journalist und wissenschaftliche Mitarbeiter bei der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz, Abschnitte aus seinem Buch «Sprechen wir über Europa» preis. Dieses behandelt zehn Reden und Texte von bedeutenden Schweizer Persönlichkeiten, die die Überlegungen zum Verhältnis der Schweiz zu Europa wiederspiegeln.

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