Psychiatrie-Chefarzt warnt vor vielen jungen IV-Bezügern
Die Konferenz der kantonalen IV-Stellen möchte unter 30-Jährigen keine IV-Rente mehr geben. Der Psychiatrie-Chefarzt erklärt, weshalb er dagegen ist.

Das Wichtigste in Kürze
- Wegen psychischer Probleme erhalten immer mehr Menschen unter 25 eine IV-Rente.
- Die Konferenz der kantonalen IV-Stellen fordert deshalb eine Erhöhung des Rentenalters.
- «Das ist kontraproduktiv», sagt der Psychiatrie-Chefarzt Thomas Ihde dazu.
In der Schweiz wird über eine Erhöhung des IV-Rentenalters diskutiert. Wenn es nach der Konferenz der kantonalen IV-Stellen geht, sollen Renten befristet und das Alterslimit auf 30 erhöht werden.
Grund dafür ist, dass immer mehr unter 25-Jährige hierzulande eine IV-Rente wegen psychischer Probleme beziehen. Doch mehrere Organisationen, welche Hilfsangebote für mental belastete Menschen anbieten, sprechen sich dagegen aus.
So haben sich etwa Pro Juventute oder Pro Mente Sana in einem entsprechenden Brief an den Bundesrat gewandt.
«Bei Menschen mit psychischen Krankheiten sind die Stresshormone sowieso schon zu hoch», sagt Thomas Ihde zu den «Tamedia-Zeitungen». Er ist Psychiatrie-Chefarzt und Präsident von Pro Mente Sana.
Man dürfe nicht noch mehr Druck auf junge IV-Bezüger ausüben. «Das ist kontraproduktiv», sagt Ihde. Die Angst wirke lähmend.
Menschen brauchen «soziale und finanzielle Sicherheit»
«Was diese Menschen brauchen, ist soziale und finanzielle Sicherheit. Nur so ist eine Gesundung möglich.» Auch für ihn ist klar, dass es einen grossen Bedarf an Verbesserungen des IV-Systems gebe.
Denn er warnt: «Wenn die heutigen Jugendlichen in fünf Jahren erwachsen werden, wird die IV-Quote noch mal massiv ansteigen.» Man stehe «erst am Anfang einer riesigen Welle». Und: «Wir befürchten, dass das ganze Rentensystem in ein paar Jahren kollabieren könnte.»
Aktuell wird laut dem Psychiatrie-Chefarzt der Telefondienst von Pro Juventute förmlich mit Anrufen zugedeckt. Dieser Dienst unterstützt Kinder und Jugendliche mit psychischen Problemen rund um die Uhr. Bei Pro Mente Sana sei es ähnlich.
Ihde fordert vor allem eine Verbesserung der Hilfeleistungen, damit junge IV-Bezüger besser ins Erwerbsleben integriert werden können. Doch dieser Integrationsprozess dauere sehr lange. «Häufig dauert es sogar länger als ein Jahr.»
Bei der Prävention ansetzen
Dazu müsse die Verzahnung zwischen Arbeitsintegration und Therapie viel besser funktionieren. «Aber eigentlich müsste man schon viel früher ansetzen, lange vor den IV-Renten.»
Und zwar «bei der Prävention, bei Kindern und Jugendlichen». Schwergradige psychische Krankheiten würden immer früher beginnen.
«Vor 30 Jahren hat man noch gesagt, eine Schizophrenie fange bei Männern durchschnittlich zwischen 20 und 25 Jahren. Bei Frauen zehn Jahre später. Heute sind es bei beiden zehn Jahre früher.» Dies treffe auch bei anderen Erkrankungen zu.
Es ist laut dem Psychiatrie-Chefarzt «matchentscheidend, dass Junge eine Erstausbildung abschliessen können. Da müssen wir ansetzen.»
Das Problem: «Heute warten Kinder und Jugendliche in manchen Kantonen ein Jahr auf einen Termin bei einem Psychiater oder einer Psychotherapeutin.» Die Kantone seien zwar um Verbesserung bemüht, doch es scheitere am Fachkräftemangel.
Anstieg «hat nichts mit Enttabuisierung von psychischen Problemen zu tun»
Ihde stellt zudem klar: «Der Anstieg der Rentenquote hat nichts mit der Enttabuisierung von psychischen Problemen zu tun. Allein die Anzahl Beratungsanfragen junger Menschen wegen Suizidgedanken in der Schweiz hat sich in den letzten fünf Jahren mehr als verdreifacht.»
Mittlerweile liege die Anzahl bei 13 pro Tag. Aus Sicht des Experten haben es Junge heute auch schwerer als früher.
«Die meisten Menschen müssen in ihren Jobs heute vor allem mentale Leistungen erbringen. Wir sind alle Hochleistungssportlerinnen und -sportler im Bereich Psyche.»
Wer sich nicht mehr konzentrieren könne, sei massiv eingeschränkt in der Arbeitswelt. Die Anforderungen an Arbeitnehmende seien gestiegen.
«Alle reden von Inklusion am Arbeitsplatz, aber eigentlich ist die Arbeitswelt sehr intolerant geworden. Und dann kommt noch hinzu, dass die Bedeutung von Kommunikation, Gefühlen und Beziehungen enorm zugenommen hat», erklärt der Experte.
Das bedeute, «dass wir in diesem Bereich eine neue Verletzlichkeit aufweisen. Damit kommen nicht alle klar.»
***
Brauchst du Hilfe?
Bist du selbst depressiv oder hast Suizidgedanken?
Dann kontaktiere bitte umgehend die Dargebotene Hand (www.143.ch). Unter der kostenlosen Hotline 143 erhältst du anonym und rund um die Uhr Hilfe.
Die Berater können Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen. Auch eine Kontaktaufnahme über einen Einzelchat oder anonyme Beratung via E-Mail ist möglich. Hilfe für Suizidbetroffene: www.trauernetz.ch
Für Kinder und Jugendliche ist das Telefon 147 da – auch per WhatsApp und E-Mail oder unter www.147.ch.
Eltern können sich per Telefon, WhatsApp oder E-Mail an die Elternberatung wenden: www.projuventute.ch/elternberatung.