Lukas Hartmanns neuer Roman trägt den Titel «Martha und die Ihren» und erzählt die Geschichte seiner Grossmutter, die in ihrer Kindheit verdingt wurde.
Bundesrätin Simonetta Sommaruga
Lukas Hartmann und Ehefrau Simonetta Sommaruga bei einem Anlass im Jahr 2014. (Archivbild) - Keystone

«Martha und die Ihren» heisst der neue Roman von Lukas Hartmann. Er hat ihn zu Teilen nach seinem Schlaganfall im Oktober 2022 geschrieben. Der Berner Autor erzählt darin die Geschichte seiner Grossmutter, die als Kind verdingt wurde. Eindrücklich zeigt er auf, wie ein solches Trauma Schatten auf mehrere Generationen werfen kann.

Lukas Hartmann habe «sich erfreulich gut erholt und ist dankbar dafür», lässt der Autor auf Anfrage der Nachrichtenagentur Keystone-SDA seinen Verlag ausrichten. Seine Freude am Schreiben sei unvermindert. Mehr als die Hälfte von «Martha und die Ihren» sei bereits vor seinem Schlaganfall geschrieben worden, schreibt der Diogenes Verlag. «Der übrige Teil ist nach dem Schlaganfall in den letzten Monaten entstanden.»

Die Geschichte von Martha

Mit dem Verdingwesen und den Themen des Romans beschäftige sich Hartmann seit vielen Jahren. «Sie sind ihm sowohl persönlich sehr wichtig, als auch ein wichtiges Kapitel der Schweizer Geschichte», so der Verlag. Und so erzählt Hartmann von seiner Grossmutter väterlicherseits, von Martha.

Sie war sieben Jahre alt, als ihr Vater stirbt. Ein Arbeitsunfall hat ihn bettlägerig gemacht, der achtköpfigen Familie fehlen deshalb die Einnahmen und das Essen ist knapp. Der Tod des Vaters macht das Elend schliesslich amtlich: Die Kinder können von der Mutter allein nicht ernährt werden, sie müssen weg, entscheidet die Gemeinde.

So werden die sechs Geschwister als Verdingkinder auf sechs verschiedenen Bauernhöfen im Berner Umland untergebracht. «Wenn du brav bist und fleissig, wirst du es gut haben bei uns», sagt der fremde Mann zu Martha, als er sie abholt. Es ist eine Geschichte, wie sie viele Kinder und Jugendliche in der Schweiz erlebten. Sie kamen als Verdingkinder in Heime, psychiatrische Anstalten oder auf Bauernhöfe, wurden geschlagen, gedemütigt und als billige Arbeitskräfte missbraucht.

Entschuldigung des Bundesrats an Verdingkinder

2013 hat sich die damalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga – Lukas Hartmanns Frau – an einem Gedenkanlass offiziell im Namen des Bundesrats bei den Verdingkindern und anderen Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen dafür entschuldigt. Lukas Hartmann schildert die Lebensgeschichte von Martha chronologisch, ohne Pathos, geradezu nüchtern. Hin und wieder lässt er seine Grossmutter in kurzen Passagen in Ich-Form sprechen.

Dann dringt die Verzweiflung, die das Mädchen gespürt haben muss, unmittelbarer durch die Einsamkeit und Überforderung. Martha gewöhnt sich an ihr neues Zuhause, das sie nicht so nennt, denn wirklich zur Familie gehört sie nie. Wo ihre Geschwister untergekommen sind und wie es ihnen geht, weiss sie nicht. Den anfänglichen Schlägen kann Martha mit der Zeit entgehen, indem sie sich anpasst und tut, was man von ihr verlangt.

Ihr einziger Freund ist ein Lehrer, dem sie sich hin und wieder anvertraut. Er unterstützt sie auch dabei, nach der Schule eine Stelle zu finden. Für 42 Rappen pro Stunde beginnt die junge Frau bei der Strickerei Ryf in der Berner Matte zu arbeiten. Von da an geht sie ihren Weg, wird selbstständiger, heiratet, lässt die Armut hinter sich – sie bekommt Kinder und irgendwann Enkelkinder.

Dämonen der Kindheit lassen nie ganz los

Doch die Dämonen der Kindheit wird Martha bis zu ihrem Tod nie ganz los. Die Gefühlskälte, die Entbehrungen und Demütigungen von früher haben sie zäh gemacht, willensstark, manchmal kühl und dominant. So, wie sie sich selbst nichts gönnt, sich alles abverlangt, so verlangt sie auch ihrer Familie alles ab. Das Gefühl, sich ständig bewähren zu müssen, überträgt sie auf ihre Kinder.

Schwäche lässt sie kaum zu. Erst im Altersheim beginnt Martha ihrem Enkel Bastian zaghaft von ihren Erfahrungen in der Kindheit zu erzählen. Bastian, das ist Lukas Hartmann. Wie der Autor im Nachwort erklärt, hat er bis auf jenen von Martha alle Namen geändert, um Abstand zu gewinnen «und glaubwürdig eine Familiengeschichte zu erzählen, in der der Aufstieg aus der Armut in den wachsenden Wohlstand mit Entbehrungen, psychischen und körperlichen, bezahlt werden musste».

Matinee im Berner Zentrum Paul Klee

Hartmann erzählt im Roman viel über diesen Bastian, über das schwierige Verhältnis zum Vater, über seine künstlerische Ader, die er erst unterdrückte, um Erwartungen zu erfüllen. Bis er schliesslich zum Schreiben fand. So zeigt Lukas Hartmann eindrücklich auf, wie ein Kindheitstrauma über Generationen weiter wirken kann, von der Mutter auf die Kinder und deren Kinder.

Die Lektüre von «Martha und die Ihren» ist mitunter schwere Kost, zwischendurch kaum auszuhalten. Gut, dass Lukas Hartmann Marthas Geschichte trotzdem erzählt. Damit niemand vergisst.

Der Autor wird seine Geschichte auch persönlich erzählen. Anlässlich seines 80. Geburtstags (29. August) ist für den 1. September eine Matinee im Berner Zentrum Paul Klee geplant. Er will dann aus «Martha und die Ihren» lesen.*

* Dieser Text von Maria Künzli, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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