Hier sollen Obdachlose Wohnungen kriegen – doch Wohnraum fehlt
Immer mehr Schweizer Städte geben Obdachlosen bedingungslos eine Wohnung – und machen dabei gute Erfahrungen. Doch die Nachfrage übersteigt das Angebot.

Das Wichtigste in Kürze
- Das Konzept Housing First bietet Obdachlosen bedingungslos Wohnungen.
- Doch der Leerstand erschwert die Umsetzung in vielen Städten.
- Zum Teil wollen auch die Vermieter nicht an Ex-Obdachlose vermieten.
Zuerst die eigene Wohnung, erst dann kommt alles andere. Beim Prinzip Housing First wird die Obdachlosenhilfe auf den Kopf gestellt.
«Die Wohnung bedeutet für mich Neustart», sagte der 20-jährige Basler David S.* kürzlich bei einem Besuch von Nau.ch.
Er ist einer von über 40 Ex-Obdachlosen, die seit 2020 an eine eigene Wohnung dank Housing First in Basel gekommen sind. Für die Mietkosten kommt je nach Fall die Sozialhilfe oder die IV auf.

Das Konzept – ursprünglich aus den USA stammend – findet nicht nur in der Rheinstadt Anwendung, wie eine Nau.ch-Umfrage zeigt. Doch insbesondere der tiefe Leerstand in den Deutschschweizer Städten macht bei der Umsetzung Mühe.
Seit vergangenem Sommer ist in der Stadt Zürich die erste von zwei Varianten des Pilotprojekts umgesetzt.
Stadt Zürich sucht Wohnungen für maximal 1400 Franken – «sehr schwierig»
«Eine bereits vom Sozialdepartement genutzte Liegenschaft wurde Housing First zur Verfügung gestellt», sagt Sarah Jost.
«Die Bewohnenden unterzeichneten dabei einen unbefristeten Mietvertrag.» Die Fachpersonen beraten die Ex-Obdachlosen individuell bei Themen wie Wohnen, Gesundheit und Soziale Integration.
Bei einer zweiten Variante von Housing First sollen – wie in Basel – einzelne Wohnungen im Stadtgebiet vermittelt werden. Dafür werden rund 15 Wohnungen mit je einem oder zwei Zimmern gesucht – bei einem Netto-Mietzins von maximal 1400 Franken.
Doch das sei nicht so einfach, so Jost. «Das Pilotprojekt stösst durchaus auf Interesse. Die konkrete Beschaffung von Wohnraum gestaltet sich aber auf dem aktuellen Wohnungsmarkt als sehr schwierig.»
Denn: Leere Wohnungen in der Stadt Zürich sind rar, wie die aktuellsten Zahlen vom Juni 2024 zeigen. Damals standen gerade einmal 169 Wohnungen in der Stadt Zürich leer. Das entspricht einem Leerstand von gerade einmal 0.07 Prozent.
Auch im Bündner Kantonshauptort Chur gibt es seit September 2024 ein Angebot. «Die Nachfrage ist sehr hoch. Die Anfrage ist höher als die Anzahl Plätze», sagt Ilona Bosch vom Verein Oase.
Bislang konnte acht Obdachlosen eine Wohnung vermittelt werden. Wegen grossen Erfolgs in Chur hat der Kanton das Projekt, das ursprünglich bis Ende Jahr befristet gewesen wäre, verlängert.
Churer Verein muss auf Agglos ausweichen
Der Verein organisiert Housing First im Auftrag des Kantons Graubünden. Doch die Wohnungssuche gestaltet sich auch hier schwierig. «Chur hat einen geringen Leerstand. Darum müssen wir unter anderem auf Agglomerationen ausweichen.»
Im Unterschied zur Grundidee von Housing First laufen die Mietverträge allerdings über den Verein und nicht über die Betroffenen selbst. Das hat seine Gründe.
«Wir machten die Erfahrung, dass die Vermieter sich nur so auf Housing First einlassen. Wenn wir mieten, stellen wir die regelmässige Mietzinszahlung sicher und dass die Wohnungen nicht überbelegt sind», so Bosch.
Das sei auch für die Teilnehmenden eine Erleichterung. «Viele sind nicht in der Lage, das Geld der IV für die Miete auszugeben. Es wandert dann stattdessen in die Sucht.»
Auch müssen die Teilnehmenden regelmässige Besuche akzeptieren. Therapien oder ein Entzug sind aber keine Bedingung.
Im Kanton Solothurn werden Obdachlosen seit 2021 Wohncontainer zur Verfügung gestellt. Karin Stoop vom Verein Perspektive Region Solothurn-Grenchen sagt: «Die beiden Wohncontainer sind nach wie vor in Betrieb. Es gab aber keinen Ausbau mit weiteren Containern.»
Psychische Beeinträchtigungen erschweren dauerhaftes Wohnen
In der Stadt Bern läuft seit 2023 ebenfalls ein Pilotprojekt zu Housing First. Der Verein Wohnenbern, der über 80 Wohnungen verfügt, setzt die Prinzipien schrittweise um.
Heisst: Die Wohnungen gab es vorher in Form von verschiedenen Wohnhilfeangeboten. Nun soll die Vermittlung neu mit dem Housing-First-Ansatz erfolgen.
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Die meisten Ziele seien laut dem Berner Sozialamt inzwischen umgesetzt. «Ein Angebot nach diesem Ansatz ist damit grundsätzlich bereits verfügbar», sagt Amtsleiterin Claudia Hänzi.
Die Stadt Bern prüfe, wie deren bestehende Angebote künftig stärker am Housing-First-Ansatz ausgerichtet werden können. Unter Einbezug der Erfahrungen der Heilsarmee und einer laufenden europäischen Studie.

Herausforderungen sieht die Stadt insbesondere bei Vermieterinnen und Vermietern, die Wohnungen nicht an ehemals obdachlose Menschen abgeben möchten.
«Hier kann dann ein Hauptmietvertrag nur mit einer Institution der Wohnhilfe abgeschlossen werden. Und selbst dann besteht oft genug grosse Zurückhaltung», sagt Hänzi.
Ein weiteres Problem sei auch in Bern der knappe Wohnraum. Zudem eigne sich Housing First nicht für alle: Manche Betroffene hätten psychische Beeinträchtigungen, die ein dauerhaftes Wohnen erschweren. «Hier braucht es nach wie vor ergänzende Angebote.»
*Name von der Redaktion geändert