Basler Obdachlose erhalten eigene Wohnung – «Neustart»
Obdachlose haben keinen Rückzugsort und sind dadurch zusätzlich blockiert. Ein Basler Projekt schafft Abhilfe. Nau.ch hat sich vor Ort ein Bild gemacht.

Das Wichtigste in Kürze
- Basler Obdachlose erhalten ihre eigene Wohnung durch das Projekt Housing First.
- Dabei wird die Obdachlosenhilfe auf den Kopf gestellt.
- Für viele bedeutet das einen Neustart – so auch für David S. (20), den Nau.ch besucht hat.
Seit Kurzem lebt der Basler David S.* (*Name geändert) in einer eigenen Wohnung – nach 15 Monaten auf der Strasse. «Die Wohnung bedeutet für mich Neustart», sagt der 20-Jährige.
«Ich muss mich erst einleben. Nach so langer Zeit ohne Rückzugsort lasse ich jetzt alles auf mich wirken.»
Seit zwei Monaten lebt er nun in einer Ein-Zimmer-Wohnung in Basel, in der ihn Nau.ch besucht. «Ich bin froh, mich wieder in meine eigenen vier Wände zurückziehen zu können.»
Die Wohnung fand David S. dank des Projekts Housing First – einem Angebot der Heilsarmee im Auftrag der Basler Sozialhilfe.
Das Angebot wurde 2020 ins Leben gerufen. Im vergangenen Dezember ging das Projekt dann von der Pilotphase in den Regelbetrieb über und wird nun ausgebaut.
Das Konzept dafür stammt aus den USA – die Obdachlosenhilfe wird dabei komplett auf den Kopf gestellt.
Erst die Wohnung, dann alles andere
«Als Allererstes brauchen Menschen, die auf der Strasse leben, eine Wohnung. Damit die ganzen Prozesse in Gang gebracht werden können», erklärt Thomas Frommherz, Bereichsleiter Housing First bei der Heilsarmee, gegenüber Nau.ch.
Die Wohnung steht hier also am Anfang, nicht am Ende des Prozesses.
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Die Voraussetzungen für eine Teilnahme: seit mindestens zwei Jahren im Kanton wohnhaft, obdach- oder wohnungslos, die Bereitschaft, eigenverantwortlich einen Mietvertrag einzugehen sowie die Finanzierung sicherzustellen.
Gemeinsam mit den teilnehmenden Personen wird dann auf dem privaten Wohnungsmarkt eine Wohnung gesucht. «Dafür braucht es bei den Vermietern erst einmal Überzeugungsarbeit. Es gibt viele Vorbehalte – etwa zur Sicherung des Mietzinses oder der Einhaltung der Hausordnung.»
Der Mietvertrag wird direkt mit den teilnehmenden Personen geschlossen. Diese Eigenständigkeit ist Kern von Housing First.
Seit 2020 sind über 40 Personen Teilnehmende des Projekts. Im Moment zur Hälfte Männer und zur Hälfte Frauen.
Sozialhilfe bezahlt die Mieten
Finanziert wird die Miete nicht über das Projekt, sondern über sozialstaatliche Einrichtungen wie die Sozialhilfe. «Die Vermieter haben die Sicherheit, dass sie die Miete erhalten», sagt Frommherz.
Nach der Vermittlung stehen die Mitarbeitenden von der Heilsarmee – zum Beispiel bei administrativen Aufgaben – beratend zur Seite.
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Das Angebot ist freiwillig. «Wir erleben aber, dass dieses viele schätzen – auch weil durch die Wohnungs-Suche eine persönliche Beziehung entsteht.»
David S. ist einer von rund 40 Obdachlosen, die durch Housing First wieder ein Dach über dem Kopf haben.
Wie jede dieser Biografien erzählt auch seine eine ganz eigene Geschichte. Das Leben auf der Strasse sieht oft ganz anders aus, als es gängige Klischees vermuten lassen.
Seine Geschichte beginnt im Alter von 18 Jahren. «Ich kam in eine betreute WG und hatte es dort gut», erzählt David S.

Doch rund acht Monate später kam es zu einem Vorfall, auf den er nicht näher eingeht. «Dieser führte dazu, dass ich dort nicht mehr wohnen konnte. Innerhalb von zwei Tagen musste ich relativ überstürzt ausziehen.»
Er stand mit nichts da. Ein Leben bei der Mutter, die unter dem Existenzminimum lebt, war keine Option.
«Immer mal wieder konnte ich bei Kollegen auf dem Sofa crashen. Aber ich verbrachte auch viel Zeit auf der Strasse.»
Sein Alltag bestand daraus, sich einen Ort zum Schlafen zu suchen und zu schauen, wie er an Essen kommt. Andere Dinge, geschweige denn Wohnungsbesichtigungen, waren schlicht nicht möglich.
Viele haben falsches Bild von Obdachlosen
«Wenn ich nicht crashen konnte, war ich ewig wach. Ich habe mich dann in irgendeiner ruhigen Ecke verkrochen und dort ein paar Stündchen geschlafen. Und dann ging es weiter.»
Wenn es kalt war, ging er morgens in eine Bibliothek, um dort Wärme zu tanken. «Danach war ich wieder den ganzen Tag am Rumstreunen.»
Die Zeit sei alles andere als einfach gewesen. «Ich versuchte mich aber nicht zu fest runterziehen zu lassen und mich auf den Moment zu konzentrieren.»
Wenn er zu fest darüber nachdachte, sei es kaum aushaltbar gewesen – nicht zuletzt auch wegen seiner Borderline-Persönlichkeitsstörung.
Dabei handelt es sich um eine schwere psychische Erkrankung. Sie ist durch starke emotionale Schwankungen, impulsives Verhalten, ein unsicheres Selbstbild, instabile Beziehungen und selbstschädigende Handlungen gekennzeichnet.
Von anderen Obdachlosen hielt sich David S. fern. Auch aus Selbstschutz.

Dabei will er auch mit einem Vorurteil aufräumen. «Nur, weil ich einen grossen Rucksack dabeihatte, sah man mir nicht an, dass ich obdachlos war.»
Klar gebe es auch die Obdachlosen, die an der Ecke mit einem Becher sitzen. «Man soll aber nie von einem Klischee-Obdachlosen auf eine gesamte Gruppe schliessen. Vielen sieht man es schlichtweg nicht an.»
Ex-Obdachloser schwärmt über «Bomben-Wohnung»
Gegen Ende des letzten Sommers wurde David S. bei einem Besuch auf dem Sozialdienst erstmals auf Housing First aufmerksam. «Dieses Angebot entsprach dem, was ich mir vorgestellt habe. Also rief ich dort an.»
Zur Überbrückung ging es für ihn ins Männerwohnhaus der Heilsarmee. Das sei zwar besser als die Strasse gewesen. Privatsphäre war aber auch dort Fehlanzeige.

Die Wohnungs-Suche zog sich hin: Eine Verwaltung stellte sich quer, bei anderen gab es Absagen. Nach zwölf Besichtigungen klappte es dann endlich.
«Es ist eine Bomben-Wohnung», schwärmt er. «Ich habe einen Balkon und eine Badewanne. Nur die Küche ist nicht die grösste – doch alles kann man nicht haben.»
Der Einzug war für David S. chaotisch. Einen Grossteil der Möbel bestellte er, das Bett erhielt er von seiner Grossmutter. «Sehr bequem» sei dieses.
«Die Umstellung war Erleichterung und Überforderung zugleich. Jetzt kommt alles wieder ins Laufen, doch es kommen immer mehr Aufgaben dazu. Ich bin in letzter Zeit am Anschlag.»
Ein konkretes Ziel hat der 20-Jährige noch nicht. «Ich möchte zunächst wieder mit beiden Beinen im Leben stehen, da hilft mir die Wohnung enorm.»
Erst durch eigene Wohnung ergeben sich Chancen
Thomas Frommherz, Bereichsleiter Housing First bei der Heilsarmee, bestätigt: «In der ersten Zeit ist es für alle Beteiligten anstrengend und fordernd.»
Aber der Stress vom Leben auf der Strasse fällt weg: «Wenn man weiss, das ist mein privater Raum, dann führt das zu einer Entspannung.»
Haben die ehemaligen Obdachlosen erst einmal ihre Wohnung, wird es für sie möglich, sich um andere Dinge zu kümmern.
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Ob medizinische Behandlungen, den Kontakt zur Familie wiederaufbauen oder auch berufliche Perspektiven. «Da merkt man, dass die Wohnung für diesen Prozess enorm wichtig ist.»
Die eigene Wohnung bietet David S. Möglichkeiten, die ihm lange Zeit verschlossen blieben. Mal trifft er sich mit Freunden, mal kommen sie zu ihm oder er geht in die Badi.
Auch der Ausgang ist nun angenehmer. «Während meiner Zeit auf der Strasse stand die Zeit im Ausgang still und ich konnte abschalten und loslassen. Aber jetzt fühlt es sich weniger erzwungen an und ich kann dann nach Hause, wenn ich möchte.»
Ex-Obdachloser rät: «Nicht in ein Loch fallen»
Das Projekt Housing First kann er anderen Betroffenen weiterempfehlen. «Wichtig ist, dass man nicht in ein Loch fällt», rät er.
«Es mag vielleicht im Moment alles scheisse aussehen. Aber man hat immer die Entscheidung, ob man nach vorne geht oder stehen bleibt.»
Sich Hilfe holen, sei unabdingbar und auch keine Schwäche. Wer in seinem Umfeld jemanden hat, der obdachlos ist oder von Obdachlosigkeit gefährdet ist, soll Solidarität mit ihnen zeigen.
«Meistens hilft nicht das am meisten, was die Person in dem Moment will. Es bringt nichts, einer Person alles in den Hintern zu schieben», mahnt er.
Stattdessen rät er: «Man soll der betroffenen Person helfen, wieder auf die Beine zu kommen und selbst nach Lösungen zu schauen. Auch wenn es die Person anscheisst.»