Verdingkinder und andere Opfer von Zwangsmassnahmen sollen laut Experten besser entschädigt werden. Der Bundesrat will die Empfehlungen sorgfältig prüfen.
Interview über die Schweizer Zwangsversorgungen mit Bundesrätin Karin Keller-Sutter, UEK-Präsident Markus Notter sowie der Direktbetroffenen Gabriela Merlini. - Nau
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Das Wichtigste in Kürze

  • Experten haben sich mit der Situation der Opfer von administrativer Versorgung befasst.
  • Sie empfehlen, die rund 60'000 Personen künftig noch besser zu unterstützen.
  • Bundesrätin Karin Keller-Sutter ist gewillt, nach möglichen Lösungen zu suchen.

«Beklemmend» finde sie es, sagt Karin Keller-Sutter am Montagnachmittag im Berner Bierhübeli. Die Bundesrätin ist an die Schlussveranstaltung der Unabhängigen Expertenkommission für administrative Versorgungen (UEK) gekommen.

Vier Jahre lang untersuchten die Forscher das dunkle Schweizer Kapitel der Zwangsversorgten. «Der Staat hat eigentlich den Auftrag, die Freiheit und Sicherheit der Bürger zu schützen. Das hat er nicht gemacht», sagt Justizministerin Keller-Sutter weiter.

Interview mit Bundesrätin Karin Keller-Sutter. - Nau

Finanzielle Hilfe und Ort des Austauschs

In ihrem zuvor präsentierten Schlussbericht empfiehlt die UEK, Verdingkinder und andere Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen finanziell stärker zu entschädigen. So sollen etwa ehemalige Zwangsversorgte, deren Steuerschulden wegen prekärer Lebensbedingungen hoch sind, von den Steuern befreit werden. Auch der Vorschlag für den Anspruch auf eine lebenslange Rente und ein Gratis-GA der SBB ist in den Empfehlungen zu finden.

Auf lange Sicht empfiehlt die UEK zudem ein «Haus der anderen Schweiz» in Bern. Dort sollen die Opfer Hilfe erhalten, wenn sie ihre politischen Rechte ausüben oder ihren Forderungen Gehör verschaffen wollen.

Interview mit Markus Notter, Präsident UEK. - Nau

Bundesrätin Keller-Sutter nimmt die Empfehlungen entgegen und sagt: «Wir werden diese in der Regierung sorgfältig prüfen und schauen, wo man noch entgegenkommen kann.»

Hoffnung in Politik verloren

Viele Direktbetroffene sind an den Anlass gekommen, unter ihnen Gabriela Merlini. Zehn Jahre war sie während ihrer Kindheit und Jugend in verschiedenen Heimen zwangsversorgt. Merlini hat wenig Hoffnung, dass die Politik die Empfehlungen der UEK umsetzt. «Wir brauchen die Zivilgesellschaft, von ihr erhoffe ich mir grosse Unterstützung.»

Gabriela Merlini war während ihrer Kindheit und Jugend zehn Jahre zwangsversorgt. - Nau

Erst im letzten Jahr erhielten die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen einen Solidaritätbeitrag von 25'000 Franken. Letzte Woche berichtete der Kassensturz nun, dass manchen Betroffenen aufgrund des zusätzlichen Vermögens die Rente gekürzt wird. Politiker von links bis rechts waren sich einig, dass dies nicht der Sinn der Sache sei.

Zwangserziehung, weil sie nicht ins Schema passten

Gemäss den Forschungsresultaten der UEK wurden im Verlauf des 20. Jahrhunderts mindestens 60'000 Personen in 648 Institutionen in der Schweiz unter Zwang administrativ versorgt. Das heisst, die Personen wurden ihrer Freiheit beraubt und in eine geschlossene Anstalt gesperrt. Dies, obwohl die Eingesperrten kein Delikt begangen hatten. Ihre Lebensweise erfüllte einfach die Erwartungen der Behörden nicht.

Weil es keine Rechtsgrundlage gab, wurde die administrative Versorgung für viele Zwecke genutzt. Sie wurde etwa zur Armutsbekämpfung, im Kampf gegen Alkoholismus oder zur Durchsetzung sozialer und moralischer Standards - insbesondere für Frauen - eingesetzt. Die Massnahme wurde schliesslich auch zum Instrument der «Umerziehung» für Jugendliche, die als rebellisch galten.

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