Autor Daniel de Roulet schreibt mit dem «esprit de contradiction»

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Bern,

Autor Daniel de Roulet erzählt Geschichten, die die Gesellschaft reflektieren. Er sieht die Literatur als Mittel, den Benachteiligten eine Stimme zu geben.

Der Westschweizer Autor Daniel de Roulet hat auch in der Deutschschweiz sein Lesepublikum gefunden. Doch diesseits und jenseits der Saane wird er unterschiedlich wahrgenommen.
Der Westschweizer Autor Daniel de Roulet. (Archivbild) - sda - Keystone/SALVATORE DI NOLFI

Wenn der Genfer Autor Daniel de Roulet einen Roman schreibt, dann treibt ihn der Widerspruchsgeist. Und er verbindet mit Literatur ein politisches Anliegen: denjenigen eine Stimme zu geben, die offiziell nicht zu Wort kommen. Was es damit auf sich hat, erzählt er im Gespräch zu seinem 80. Geburtstag (4. Februar).

Skepsis gegenüber offizieller Darstellung schweizerischer Geschichte

«Geschichte wird immer von oben erzählt, ich erzähle sie von unten», sagt Daniel de Roulet gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Zwei Beispiele dafür aus seinem jüngeren Werk sind «Die rote Mütze» (2024) und «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» (2017). Es geht um das Schicksal schweizerischer Söldner im einen und um forcierte Auswanderung im anderen Buch – beides historische Fakten.

«Ich finde es tragisch, dass man erzählt, die Schweiz sei immer neutral gewesen oder sie sei die älteste Demokratie der Welt», sagt de Roulet. «Aber woher unser Reichtum kommt, oder die wenig rühmliche Problematik der Söldner findet in den offiziellen Geschichtserzählungen nicht statt.» Dem setzt der Autor seine Skepsis gegenüber der offiziellen Darstellung schweizerischer Geschichte entgegen, seinen Widerspruchsgeist oder eben «esprit de contradiction» – und zwar mit Literatur.

«Wo die Fakten lückenhaft sind»

De Roulet erzählt seine Geschichten aus einer Perspektive, «wo die Fakten lückenhaft sind». Im Fall der Söldner sei gut belegt, wie die Karriere des Regimentschefs verlaufen ist. Aber wie das Leben der Söldner ausgesehen hat, das ist nicht dokumentiert. «Ich brauche also meine eigene Imagination für ein vollständiges Bild.»

Dabei spricht er das Wort «Imagination» französisch aus, das sei nicht das Gleiche wie Phantasie im Deutschen. Durch «Imagination» entstehe «une nouvelle image», ein neues Bild. «Kunst, auch die Literatur, hat mit Imagination zu tun. Es entsteht etwas Neues.»

Das eigene «Ich»

De Roulet spricht Französisch und Deutsch. Sein Vater kam aus der französischsprachigen Schweiz, seine Mutter aus der deutschsprachigen. Aufgewachsen ist er im protestantischen Pfarrhaus im Uhrmacherstädtchen St. Imier im Berner Jura. Der Vater sei ein den Menschen zugewandter Pfarrer gewesen, wie de Roulet in «Brief an meinen Vater» (2020) schreibt.

In diesem 80-seitigen Brief zeichnet er ein liebevolles Bild seiner Eltern und seiner Herkunft. Ähnlich menschenfreundlich begegnet er selber in seinen Romanen auch seinen Figuren, etwa Valentine, der Erzählerin der Auswanderinnen-Geschichte oder dem Söldner Samuel Buchaye aus Genf. Denn auch die Leserin, der Leser solle «Empathie gegenüber diesen Leuten entwickeln», sagt de Roulet im Gespräch.

Doch den Protestantismus seines Elternhauses habe er zugunsten eines Atheismus aufgegeben. «Ich bin jemand, dessen Motto weder Gott noch Herr lautet.» Eine Haltung, die etwa in «Zehn unbekümmerte Anarchistinnen» deutlich durchscheint. Überhaupt macht de Roulet aus seinem eigenen «Ich» in seinen Büchern keinen Hehl. «Wenn ich denjenigen eine Stimme gebe, die keine haben, dann ist das auch meine Stimme», sagt er.

Nicht mehr das Autobiografische ins Zentrum

Doch die Rolle, die dieses «Ich» in seinen Büchern spielt, hat sich im Lauf seines Schriftstellerlebens geändert. Sein früher Roman «Double» (1998) war «total autobiografisch». Vor dem Hintergrund des Fichenskandals nutzte er seine Geheimdienstakten, um sein eigenes Leben, seine Zugehörigkeit zur autonomen Linken, zum Roman zu machen. «Ich habe mein eigenes Leben durch das Schlüsselloch der Polizei gelesen. Das war für mich ein Schock und ein guter Stoff.» Er ist stolz darauf, dass «bisher kein anderer Autor den Fichenskandal aufgearbeitet» hat.

Seine neueren Romane stellen nicht mehr das Autobiografische ins Zentrum, de Roulet braucht autobiografische Elemente vielmehr als Rahmen. So erzählt er beispielsweise im letzten Kapitel von «Die rote Mütze», dass er über den eigenen Vorfahren, Jacques-André Lullin de Chateauvieux, den Besitzer des Söldnerregiments, zur Geschichte der acht Söldner gekommen ist.

Zwischen «Double» und «Die rote Mütze» lagen wissenschaftskritische Werke über Themen wie die Kernkraft oder der Gentech-Roman «Blaugrau» (1999). «Ich bin von der Illusion ausgegangen, das Interesse von Wissenschaftlern an Literatur wecken zu können», sagt de Roulet.

Die Wahrheit hinterfragen

Er selber hat nach einem geisteswissenschaftlichen Studium in Paris und Genf erst als Architekt gearbeitet, dann in der IT, bis 1997 leitete er das Rechenzentrum des Genfer Kantonsspitals. «Die Literatur war für mich zu Anfang mehr ein Versuch.» Er habe sich vorgestellt, «Wissenschaft und Literatur zusammenbringen zu können», etwa mit «Die Tänzerin und der Chemiker» (2003). Weil Literatur von aussen auf die Wissenschaft schaue, so de Roulets Idee, könne sie neue Perspektiven aufzeigen, etwa wie Forschungsfelder zusammenkommen könnten. «Deswegen waren mir in meinen Büchern über die Kernkraft Dissidenten wie Robert Oppenheimer oder der sowjetische Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow wichtig.»

Inzwischen hat de Roulet zu seiner ganz eigenen literarischen Stimme gefunden. Er erzählt die Geschichten einer ganzen Gemeinschaft, einer Gesellschaft, vielleicht der Schweiz. «Mich interessiert, woher die Gesellschaft kommt, in welche Richtung sie geht.» Und die Literatur hat dabei eine Aufgabe, «den weniger vom Glück Begünstigten erteilt nur die Literatur das Wort», lässt de Roulet seine Söldnergeschichte enden; oder in «Staatsräson» (2021) schreibt er: «Alles in allem bleibt nur der Roman, um die Wahrheit zu hinterfragen.»

Der 80-jährige Autor sagt: Es sei unbedingt nötig, der gängigen Geschichtsschreibung die Erzählung von unten entgegenzusetzen. «Überliessen wir das allein den Nationalisten, dann hätten wir Wilhelm Tell und Heidi. Solcher nationalistische Kitsch ist für mich Lüge.» Seine Literatur sei «der Sand im Getriebe»: «Würde ich das nicht machen, wäre es, als ob ich damit einverstanden wäre.»

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