Wolodymyr Selenskyj beklagt russische Angriffe auf das Gastransitsystem der Ukraine. Die Geschehnisse aus der Nacht im Überblick.
Wolodymyr Selenskyj
Der Präsident der Ukraine: Wolodymyr Selenskyj. - dpa

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat russische Angriffe auf das Gastransitsystem seines Landes beklagt. Es seien Objekte angegriffen worden, über die Gas durch die Ukraine in die Europäische Union geleitet werde, sagte Selenskyj in seiner in Kiew am Samstag verbreiteten abendlichen Videobotschaft. Ungeachtet des seit mehr als zwei Jahren andauernden russischen Angriffskrieges fliesst weiter Gas der Rohstoffgrossmacht durch die Ukraine – wenn auch in deutlich geringeren Mengen.

Zuvor hatte auch der staatliche ukrainische Gaskonzern Naftogaz russische Attacken gegen das Durchleitungsnetz beklagt, ohne Details zu nennen. Das Unternehmen hatte zuletzt erklärt, von 2025 an – die aktuellen Verträge mit dem russischen Staatskonzern Gazprom laufen zum Jahresende aus – kein russisches Gas mehr in Richtung Westen durchzuleiten. Empfänger sind vor allem Länder ohne Zugang zum Meer, die nicht auf Flüssigerdgas (LNG) umstellen können.

Russland hatte in der Nacht zum Samstag die Ukraine erneut mit Raketenangriffen überzogen und dabei vor allem Energieanlagen ins Visier genommen. Vier Wärmekraftwerke wurden beschädigt, wie das Energieunternehmen DTEK mitteilte. Auch in der Nacht zum Sonntag gab es erneut Luftalarm in der Ukraine. Aus verschiedenen Orten gab es Berichte über Explosionen. Betroffen war demnach auch das Gebiet Kiew.

Selenskyj fordert vom Westen mehr Flugabwehrsysteme

Selenskyj forderte nach den jüngsten Luftschlägen erneut vom Westen mehr Unterstützung bei der Flugabwehr. In seiner Videoansprache erklärte er, dass Russland mit seinen massiven Angriffen den Radius ausgeweitet habe, was nun die Arbeit der ukrainischen Flugabwehr weiter erschwere. Die Ukraine brauche mehr Flugabwehrsysteme vom US-Typ Patriot.

«Die Ukraine braucht sieben Systeme, das ist das absolute Minimum. Unsere Partner haben diese Patriots», sagte Selenskyj. Es dürfte sich um zusätzliche Forderungen handeln – zu den bereits gelieferten Patriot-Systemen. Mitte April hatte Deutschland der Ukraine die Lieferung eines dritten Patriot-Systems zugesagt. Selenskyj hatte auch schon 25 dieser Abwehranlagen mit jeweils 6 bis 8 Batterien gefordert samt der dazugehörigen Raketen. «Jede Abwehrrakete ist buchstäblich ein Lebensretter», sagte er. Die Ukraine will so die Hoheit über ihren Luftraum wiedererlangen.

Selenskyj forderte den Westen erneut auf, beim Schutz der Ukraine vor russischen Terroristen dieselbe Entschlossenheit zu zeigen wie im Nahen Osten bei der Verteidigung Israels. «Es darf keine Zeit vergeudet werden, das notwendige Signal der Entschlossenheit muss gesendet werden», betonte er.

Polens Aussenminister setzt auf Taurus-Freigabe durch Scholz

Auf mehr westliche Entschlossenheit hofft auch Polens Aussenminister Radoslaw Sikorski. Er setzt nach der Lieferung weitreichender US-Raketen an die Ukraine darauf, dass Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) doch noch seine Meinung ändert und dem angegriffenen Land deutsche Taurus-Marschflugkörper nicht länger verweigert. «Ich hoffe, der Kanzler fühlt sich durch die Ereignisse der letzten Tage ermutigt», sagte Sikorski in einem Interview der «Bild am Sonntag» und anderer Axel-Springer-Medien in Warschau. Die Lieferung von US-ATACMS-Raketen an die Ukraine bezeichnete Sikorski als «Reaktion auf die russische Eskalation» in der Ukraine, auf die auch Deutschland reagieren müsse.

Vor wenigen Tagen war bekannt geworden, dass die Ukraine von den USA weitreichende ATACMS-Raketen erhalten hat. Scholz lehnt es indes strikt ab, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern. Er befürchtet, dass Deutschland bei Bereitstellung der Raketen mit einer Reichweite von 500 Kilometern in den Krieg hineingezogen werden könnte.

«Die Russen haben bereits 70 Prozent der ukrainischen Stromerzeugungskapazität abgeschaltet. Das ist eigentlich ein Kriegsverbrechen», sagte Sikorski weiter. In Berlin habe eine Konferenz über den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Krieg stattgefunden. Besser wäre es aber, die Zerstörung des Landes zu verhindern, gab der polnische Aussenminister zu bedenken.

Selenskyj: Arbeiter beseitigen Schäden an Energieanlagen

Arbeiter in der Ukraine seien indes dabei, die Schäden durch die jüngsten russischen Angriffe an Energieanlagen zu beseitigen, sagte Selenskyj. Betroffen seien die Regionen Lwiw (früher Lemberg), Iwano-Frankiwsk, Charkiw und Dnipropetrowsk.

Moskau hatte zuvor den massiven neuerlichen Beschuss von Energieanlagen in der Ukraine damit erklärt, dass Kiew mit Drohnen ebenfalls russische Infrastruktur angreife. Bei einem solchen Angriff brach am Samstag im Gebiet Krasnodar in einem ölverabeitenden Betrieb ein Feuer aus. Die Schäden auf russischer Seite stehen allerdings in keinem Verhältnis zu den massiven Zerstörungen durch Moskaus Raketenschläge gegen ukrainische Anlagen.

Russische Armee meldet Vorrücken im Gebiet Donezk

Derweil berichteten die russischen Streitkräfte am Samstag, dass sie nach der Einnahme einzelner Ortschaften im Gebiet Donezk nun tief in die Verteidigung der ukrainischen Armee eingedrungen seien. Die Angaben waren nicht überprüfbar. Allerdings hatten auch westliche Militärexperten den russischen Truppen zuletzt einzelne taktische Erfolge bescheinigt. Auch ukrainische Medien berichteten am Samstagabend, dass Russland etwa das Dorf Berdytschi erobert habe und sich auch in dem Ort Otscheretyne festsetze.

Der ukrainische Oberkommandierende Olexander Syrskyj bezeichnete die operativ-strategische Lage an der Front als schwierig. Die Situation habe die Tendenz, sich zu verschlechtern, teilte der Befehlshaber am Samstag im Nachrichtenkanal Telegram mit. Darüber habe er mit anderen Teilnehmern Kiews beim virtuellen Treffen der US-geführten Ukraine-Kontaktgruppe am Vortag die westlichen Verbündeten unterrichtet.

Syrskyj informierte demnach auch über die Vielzahl an russischen Luftschlägen gegen die Energieinfrastruktur des Landes. Die Ukraine brauche für ihre Verteidigung dringend und zeitnah Raketen, Munition, militärische Ausrüstung und Kampftechnik. Dabei dankte er einmal mehr auch den USA für ihre Hilfe. Die USA wollen weitere Waffen und Unterstützung im Umfang von sechs Milliarden US-Dollar (5,6 Milliarden Euro) zur Verfügung stellen, wie US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am Freitag mitteilte.

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