Welche Art von Reisen können Menschen mit Behinderungen überhaupt machen? Welches sind die grössten Herausforderungen dabei und was könnten Hotels und Veranstalter besser machen? Wir haben bei Helena Bigler von Procap Reisen nachgefragt.
Mit Procap in den Bergen unterwegs, Bild: zvg/Procap Reisen
Mit Procap in den Bergen unterwegs, Bild: zvg/Procap Reisen - Community
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Das Wichtigste in Kürze

  • Menschen mit Behinderungen haben dieselben Reisebedürfnisse wie Menschen ohne Behinderungen.
  • Procap Reisen bietet zahlreiche Reisen an, die auf Menschen mit Handicap zugeschnitten sind.
  • Die Barrierefreiheit steckt in der Reiseindustrie generell aber noch in den Kinderschuhen.

Welche Art von Reisen können Menschen mit Behinderung heute machen?

Helena Bigler, Leiterin Reisen und Sport bei Procap: Ob Erholungsferien in der Schweiz, Flussreisen in Europa, Kreuzfahrten in Übersee oder Bergtrekkings in den Alpen – alles ist möglich. Aber immer in Abhängigkeit der Behinderungsform, den Möglichkeiten der Mobilität und der Art und Bedarf an Unterstützung der jeweiligen Person.

Worin besteht der grösste Bedarf?

Ganz klar darin, gleichberechtigt an den Reisemöglichkeiten teilhaben zu können. Menschen mit Behinderungen haben dieselben Bedürfnisse wie Menschen ohne Behinderungen. Zum Beispiel wären Flussreisen für mobilitätsbehinderte Menschen sehr geeignet und momentan auch im Trend. Doch leider gibt es für Rollstuhlfahrer zwar barrierefreie Kabinen, jedoch können sie nicht auf das Sonnendeck gehen und beim Anlegen wird der Transfer nicht gewährleistet. Somit sind Flussreisen für Menschen in einem Elektrorollstuhl nicht möglich!

Wieviele Menschen mit Behinderung verreisen pro Jahr mit Ihnen?

Aktuell reisen jährlich über 1200 Kunden mit Behinderung mit uns. Im individuellen Bereich können wir weiterhin ausbauen. Vor allem in der Westschweiz ist der Bedarf noch lange nicht gedeckt. Bei Gruppenreisen stossen wir jedoch an Grenzen.

Warum?

Weil hinter der Gruppen-Organisation ein riesiges Freiwilligenmanagement steckt. Die Freiwilligen, welche die Reisen dann auch begleiten, werden von uns rekrutiert, geschult und gecoacht. Es wird immer schwieriger, gute Leute zu finden, welche einen solchen Einsatz leisten können und wollen.

Wie gross ist der Anteil der Individualreisen und Gruppenreisen?

Wie erwähnt wäre der Bedarf nach Gruppenreisen vor allem in der Schweiz noch grösser, doch unser Angebot hängt von der Verfügbarkeit der Assistenzpersonen ab. Das Angebot von Gruppenreisen im Ausland ist deshalb nicht sehr gross, weil diese Reisen je nach Assistenzbedarf für die Kunden sehr teuer werden. Unsere Kunden bezahlen den Assistenzbedarf vollumfänglich selber. Das heisst, wenn jemand eine Woche Badeferien auf Kreta buchen will, bezahlt er seine eigene und auch die Reise der Assistenzperson.

Wenn man aber bedenkt, dass die Kosten in einer betreuten Wohnsituation auch sehr hoch sind …

Ja, das stimmt. Wenn wir die Reisekosten mit den Kosten in einer betreuten Wohnsituation vergleichen, kommen wohl die Ferien immer noch nicht teurer zu stehen. Doch gleichwohl: im Verhältnis zu Pauschal-Badeferien-Angeboten sind dadurch unsere Angebote teurer. Und die Barrierefreiheit und Rollstuhlgängigkeit zwingt uns meist, Hotels und Destinationen im oberen Preissegment zu nehmen, weil nur diese den Bedürfnissen unserer Kunden entsprechen.

Nehmen wir an, ein junger Querschnittgelähmter kommt zu Ihnen. Kann er ganz alleine in die Ferien?

Ja, eigentlich schon. Wenn er selbständig unterwegs ist, im Flugzeug ohne Hilfe die Toilette benutzen kann oder nur den Transfer zur Toilette benötigt, dann ist das kein Problem. Genau dafür sind wir bei Procap Reisen geschult. Wir klären den Bedarf unserer Kunden genausten ab, fragen alle Punkte der Selbstständigkeit im täglichen Leben ab und können uns so ein Bild machen, wo bei einer Reise Probleme entstehen könnten.

Ein Freund von mir ist schwer behindert. Er würde sich in einer Gruppe nicht wohlfühlen. Seine Partnerin ist aber nicht in der Lage, mit ihm alleine in die Ferien zu fahren. Kann hier auch Procap helfen?

Solche Anfragen bekommen wir immer öfters. Dafür haben wir vor drei Jahren das Angebot «persönliche Ferienassistenz» ins Leben gerufen. Wir vermitteln Reiseleiter und Ferienbegleitpersonen. In einem gemeinsamen Reisevorbereitungsgespräch werden Bedarf und Bedürfnisse von Seiten Kunden und Begleitpersonen abgeklärt und vertraglich für die Ferien geregelt. Das Angebot hat sich bewährt, doch der Aufwand dafür ist enorm. Somit bleiben unsere Angebotsmöglichkeiten auch sehr beschränkt.

Könnten auch Menschen ohne Handicap bei Ihnen buchen?

Ja, sehr gerne. Einerseits freuen sich unsere Mitarbeitenden, zwischendurch auch «einfache» Buchungen vorzunehmen. Andererseits erklären wir unseren Freunden und Zugewandten immer wieder, dass eine Reisebuchung bei uns denselben Preis hat wie in einem anderen Reisebüro.

Buchen als Zeichen der Solidarität?

Genau. Denn jeder Gewinn kommt den defizitären Ferienangebote in der Schweiz zugute und somit direkt Menschen mit Behinderungen. Deshalb konnten wir in den letzten Jahren auch unser Angebot der betreuten Ferien in der Schweiz und das Reisebüro allgemein zu Gunsten für unsere Kunden ausbauen.

Gibt es ein Erlebnis, das Ihnen ganz besonders in Erinnerung geblieben ist?

Ganz viele. Es sind immer wieder die frohen Gesichter, die lachenden Gäste, welche einem das Gefühl geben, dass sich der Aufwand dahinter doch gelohnt hat. Unsere Gäste sind sehr dankbar und wissen unsere Arbeit zu schätzen, das ist toll. In besonderer Erinnerung bleibt mir die erste Gruppe auf einer Kanutour in Frankreich – ein Rollstuhlfahrer, drei sehbehinderte Kunden und zwei psychisch behinderte Gäste. In der Wildnis des Flusses Allier haben wir campiert und alles Material mitgeschleppt. Und so sind wir auch in einer 4-er-Polonaise hinter die Büsche gegangen. Alles ist möglich – wenn man will. Herzblut ist gefragt – aber das trifft für die gesamte Reisebranche zu!

Ist die Reiseindustrie generell auf dem richtigen Weg, was das Angebot von Ferien und Reisen für Menschen mit Behinderung anbelangt?

Die Barrierefreiheit in der Reiseindustrie ist noch in den Kinderschuhen. Es reicht eben nicht, wenn das Zimmer rollstuhlgängig ist. Wenn der Duschkopf oben bleibt, kann der Rollstuhlfahrer diesen nicht selber runterholen. Somit müssen alle Dienstleister der gesamten Dienstleistungskette Hand in Hand ihre Angebote den Bedürfnissen der verschiedenen Kundengruppen anpassen.

Aber fängt das nicht schon beim generellen Bewusstsein unserer Gesellschaft an?

Auf jeden Fall. Ich höre leider immer wieder, dass es viele Leute gibt, welche Menschen mit sichtbaren Behinderungen eigentlich gar nicht integrieren möchten. Im Sinne von: während den schönsten Tagen des Jahres möchte man nicht jemanden mit Zuckungen und komischen Geräuschen in meiner Umgebung wissen.

Wie kam es dazu, dass Sie sich auf das Feriengeschäft für Leute mit einer Behinderung spezialisiert haben?

Als ausgebildete Sportlehrerin bin ich vor rund 20 Jahren bei Procap Sport eingestiegen. Parallel zu meiner Tätigkeit wurde Procap Reisen im selben Büroraum aufgebaut. Einige Jahre später wurde mir – auch aus Spargründen – der Reise-Bereich übertragen. Ich hatte von Anfang an grosses Interesse. Niemand hätte geahnt, dass sich diese Sparte, allen Strömen entgegen, so gut entwickeln würde.

Über Procap Reisen

Procap, die grösste Mitglieder- und Selbsthilfeorganisation von und für Menschen mit Handicap in der Schweiz, bietet zahlreiche Reisen an, die auf Menschen mit Handicap zugeschnitten sind.

www.travelistas.info - der Blog für Reise-Insider

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