In der Schweiz wird die Zahl geschlechtsreifer asexueller Menschen auf knapp 90'000 geschätzt. Klischees dazu gibt es genug. Wie ist die Lebenswirklichkeit?
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Asexualität hat viele Facetten. Einige kuscheln und küssen gern oder befriedigen sich selbst. Andere fühlen sich am wohlsten, wenn sie komplett auf körperliche Intimität verzichten. - Monique Wüstenhagen/dpa-tmn
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Das Wichtigste in Kürze

  • Asexualität lässt sich grob als sexuelles Desinteresse gegenüber anderen definieren.
  • Eine Erklärung dafür kennt die Wissenschaft zurzeit nich, Vorturteile gibt es umso mehr.
  • Darüber reden ist gerade deshalb wichtig, zum Beispiel mit Blick auf Familienplanung.

Evelyne Aschwanden hat jahrelang gewartet. Darauf, dass es sich endlich einstellt – die Verliebtheit, das Verlangen nach Sex. Sie spürte gründlich in sich hinein, suchte die Schmetterlinge in ihrem Bauch. Doch dort blieb es ruhig.

Was stimmt nicht mit mir? Das fragte sie sich, wenn sie sah, wie ihre Schulfreundinnen und -freunde die ersten Schritte in die romantische Liebe wagten. Wie sie verknallt waren bis in die Haarspitzen.

Evelyne Aschwanden fand das übertrieben, wollte aber dazugehören. Und dann war da dieser Junge. «15 Jahre alt waren wir», sagt sie. «Er war in mich verliebt.» Ihre Freundinnen drängten sie und so wurden die beiden ein Paar.

«Ich fand ihn toll», erinnert sich Evelyne Aschwanden. «Aber dieses Gefühl kam nicht von tief innen.»

Schnell spürte sie, dass sie dem Jungen nicht geben konnte, was er sich wünschte. Sie trennte sich – und fühlte sich befreit.

Mittlerweile ist sie 26 Jahre alt. Ein paar Dates hatte sie zwar, aber nie eine Beziehung. Auch Sex hat Aschwanden nie ausprobiert. Ihr fehlt nichts, sagt sie.

«Meine Abneigung gegen Sex und Romantik ist ein tief in mir verankertes Gefühl. Es gehört zu mir.» Evelyne Aschwanden ist asexuell und aromantisch.

Asexuell – was bedeutet das eigentlich?

Asexualität – ein Thema beladen mit Vorurteilen. «Du musst nur die richtige Person kennenlernen», «Das ist eine Störung, lass dich behandeln», «Du bist doch einfach nur frustriert und findest keinen Partner»:

Das sind Sätze, die Evelyne Aschwanden auf ihrem Instagram-Account findet, auf dem sie offen von sich erzählt. «Nichts davon ist wahr», sagt sie.

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Heute sind viele Formen sexuellen Miteinanders gesellschaftlich anerkannt. - Pexels

Eine allgemeingültige Definition von Asexualität zu finden, sei schwierig, sagt Irina Brüning. Sie ist Expertin für die Sichtbarmachung des asexuellen Spektrums.

Man könne sagen, Asexualität sei eine sexuelle Orientierung nach nichts.

Inzwischen hätten sich zwei Definitionen etabliert. «Viele sagen, dass sie keine sexuelle Anziehung gegenüber anderen empfinden», sagt Brüning. «Andere drücken es lieber so aus, dass sie kein Verlangen nach sexueller Interaktion haben.»

Kein Sex heisst nicht, keine Gefühle zu haben

Aber auch das decke nur einen kleinen Ausschnitt ab. Denn Asexualität kann ganz unterschiedlich aussehen. «Manche Menschen fühlen sich von Geschlechtsverkehr abgestossen, kuscheln oder küssen aber gerne», sagt Brüning.

«Manche befriedigen sich selbst oder stehen dem Thema Sex einfach gleichgültig gegenüber.» Sie alle hätten jedoch eines gemeinsam: Für sie ist Geschlechtsverkehr nicht nötig, um Liebe auszudrücken.

In aller Regel gibt es keinen Leidensdruck

Aber woher kommt das sexuelle Desinteresse an anderen Menschen? Eine Erklärung dafür gibt es nicht, sagt Prof. Johannes Fuss, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.

Wichtig sei aber, dass Asexualität keine Störung und nicht behandlungsbedürftig sei. «Asexuelle verspüren aufgrund ihrer Orientierung in der Regel keinen Leidensdruck. Und wo kein Leid ist, müssen wir nicht behandeln», sagt der Arzt .

Eine Störung liege eher im Umfeld, das häufig noch zu wenig über Asexualität wisse und Betroffene oft stigmatisiere oder unter Druck setze.

Austausch mit anderen asexuellen Menschen ist wichtig

Knapp 90'000 Schweizer fühlt sich laut Schätzungen dem asexuellen Spektrum zugehörig – entsprechend gering sei die Aufklärung, sagt Irina Brüning.

Sie wünscht sich mehr Sichtbarkeit, damit gerade junge Menschen Erklärungen und Anschluss zu anderen asexuellen Menschen finden.

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Für einige Paare ist Geschlechtsverkehr nicht nötig, um Liebe auszudrücken. - Pixabay

Für Interessierte und Betroffene gibt es viele Ansprechpersonen in der Schweiz. Dazu gehören zum Beispiel der Verein Aromantisches und Asexuelles Spektrum Schweiz, der Organisation Milchjugend .

Erste Kontakte zum Austausch oder für eine Beratung sind leicht über Webseiten möglich.

Aufklärung: Mehr über Lust und Unlust sprechen

«Mit einer entsprechenden sexuellen Aufklärung könnten wir es jungen Leuten leichter machen, sich selbst zu finden», sagt Johannes Fuss. Eine Möglichkeit sei es, im Rahmen des Sexualkundeunterrichts auch über Lust und Unlust zu sprechen.

Kinderplanung – auch das sei ein Thema, mit dem vor allem asexuelle Frauen immer wieder konfrontiert würden, sagt Irina Brüning. «Nur weil Menschen sich sexuell nicht zu anderen hingezogen fühlen, können sie trotzdem eine Familie gründen

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Für einige ist Romantik das tragende Fundament in einer Beziehung. - Pixabay

Das sei beispielsweise bei asexuellen Menschen der Fall, die in einer Beziehung seien und zwecks Familienplanung Sex haben.

Eine Beziehung ohne Sex könne aber natürlich auch Schwierigkeiten bereiten, sagt Irina Brüning. «Wenn der eine will und der andere nicht, muss man Wege finden.»

Viele asexuelle Menschen, die romantisch veranlagt sind, fänden häufig Kompromisse innerhalb ihrer Beziehung. Oder: Sie suchten sich von vornherein einen ebenfalls asexuellen, aber romantischen Partner.

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