Nach zehn Minuten ohne Herzschlag ist die Hirnfunktion noch nicht gänzlich eingestellt. Viele stimmen aber der Organentnahme trotzdem schon zu – unbewusst.
Ein Styropor-Behälter zum Transport von zur Transplantation vorgesehenen Organen wird am Eingang eines OP-Saales vorbeigetragen.
Ein Styropor-Behälter zum Transport von zur Transplantation vorgesehenen Organen wird am Eingang eines OP-Saales vorbeigetragen. - Keystone
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Das Wichtigste in Kürze

  • Die momentan geltende Regelung für die Organentnahme ist umstritten.
  • Nach der bisher vorgegeben Wartezeit ist noch nicht alle Hirnfunktion eingestellt.
  • Zusätzlich sind viele Schweizer ungenügend informiert.

Die geltende Regelung für die Todesfeststellung nach Herz-Kreislauf-Stillstand vor Organentnahmen ist untauglich, weil trotz der geprüften Reflexe der irreversible Funktionsausfall des Gehirns nicht bewiesen werden kann. HLI-Schweiz und die Vereinigung der Katholischen Ärzte der Schweiz (VKAS) fordern deshalb eine unabhängige Untersuchung, ob die Regelung gegen das Transplantationsgesetz verstösst. Sie verlangen den sofortigen Stopp aller Organentnahmen nach Herz-Kreislaufstillstand, bis die Angelegenheit geklärt ist. Beim Organspendeausweis von Swisstransplant besteht keine Wahlmöglichkeit der Organspendeart. Die unlauteren Werbemethoden von Swisstransplant führen deshalb zu Organspenden ohne informierte Zustimmung. HLI-Schweiz und die VKAS verlangen eine umfassende Aufklärung aller Personen, die bisher in der Schweiz bei Swisstransplant einen Organspendeausweis angefordert haben.

Unzureichend Informiert

Bei mehr als einem Viertel der sogenannten postmortalen Spender werden in der Schweiz die Organe nach Therapieabbruch/anhaltendem Herz-Kreislaufstillstand entnommen (2017: 27%). Schon ab 1985 wurde diese Entnahmeart am Universitätsspital in Zürich bei Nierentransplantationen praktiziert. Zwischen 2007 und 2011 wurde diese Organentnahmeart wegen rechtlichen Unsicherheiten gestoppt. In diesen Jahren wurden den Organspendern nur mehr nach dem klassischen Hirntod aufgrund einer primären Hirnschädigung Organe entnommen. Den meisten Trägern eines Organspendeausweises von Swisstransplant ist kaum bewusst, dass sie automatisch beiden Entnahmearten zustimmen. Seit der Wiederaufnahme der Organspenden nach Herz-Kreislaufstillstand im Jahr 2011 aufgrund der revidierten Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) werden die Schweizer Bürger nur unzureichend über die rechtlich und medizinisch umstrittene Todesfeststellung nach Therapieabbruch/Herz-Kreislaufstillstand (DCD/NHBD) informiert. Von 2011 bis 2017 wurde nach dem Herz-Kreislauf-Stillstand eine Wartezeit von zehn Minuten eingehalten. Der Stillstand des Herzens wurde in dieser Zeit mit Echokardiographie nachgewiesen. Anschliessend werden beim Patienten die gleichen Reflexe geprüft, die auch beim klassischen Hirntod gelten. Ab diesem Zeitpunkt gilt der Patient als tot, so dass sofort die Organe entnommen werden können. Die SAMW hat im Jahr 2017 die Wartezeit auf fünf Minuten halbiert und somit den Todeszeitpunkt vorverlegt, um im Sinne der Organempfänger frischere Organe zu bekommen. Nach der Todesdefinition des Transplantationsgesetzes Art. 9 Abs. 1 dürfen einem Menschen nur Organe entnommen werden, «wenn die Funktionen seines Hirns einschliesslich des Hirnstamms irreversibel ausgefallen sind.»

Noch nicht ganz tot

Eine Studie der Bioethikerin A.L. Dalle Ave und des Neurologen J.L. Bernat aus dem Jahr 2016 zeigt auf, dass diese unerlässliche Bedingung für die Organspende gar nicht gegeben ist: «Allerdings ist die Behauptung, dass Patienten mit diesen Tests hirntot sind, nicht stichhaltig, da die beschriebenen Tests keine Irreversibilität nachweisen können». Explizit verweisen sie in ihrem Artikel auf die SAMW-Richtlinien mit der damals noch zehnminütigen Wartezeit. In ihrer Untersuchung kommen sie zu folgendem Schluss: «Eine Stillstandszeit von fünf bis zehn Minuten reicht nicht aus, um die für die Bestimmung des Hirntodes notwendige irreversible Einstellung aller Hirnfunktionen zu erreichen. Daher erfüllen Organspender nach Herz-Kreislaufstillstand zum Zeitpunkt, bei dem sie als tot erklärt werden, die Voraussetzung der Irreversibilität für den Hirntod nicht». Gerade wegen dieser Unsicherheit bei der Todesfeststellung ist in Deutschland die Organentnahme nach Herz-Kreislaufstillstand nach wie vor verboten.

Steuermillionen für schlecht informierende Organspende-Kampagne

Seit 2013 finanziert der Bund die Organspende-Kampagne jedes Jahr mit einem Millionenbetrag. Die Webseite von Swisstransplant informiert zwar über die Organentnahme nach Therapieabbruch/Herz-Kreislaufstillstand. Aber in den TV-Spots wurde dieses heikle Thema bisher ausgeklammert und lediglich dazu aufgerufen, sich zu entscheiden ohne aber die wichtigen Informationen für eine Entscheidungsgrundlage zu liefern. Die Öffentlichkeit wird nur spärlich über die Organspende nach Herz-Kreislauf-Stillstand informiert. Das gilt auch für die offizielle von Swisstransplant herausgegebene Broschüre mit dem Organspendeausweis. Sie stellt die beiden Entnahmearten faktisch gleichwertig dar und unterschlägt die Wartezeit nach Herz-Kreislaufstillstand. Swisstransplant lässt auch keine Differenzierung des Spenderwillens auf dem Organspendeausweis zu. Angesichts dieser gravierenden Mängel kann nicht mehr von einer informierten Zustimmung zur Organspende ausgegangen werden.

Forderungen von HLI-Schweiz und der Vereinigung der Katholischen Ärzte der Schweiz (VKAS):

1. HLI-Schweiz und die VKAS fordern eine von der SAMW und der Transplantationsmedizin unabhängige Untersuchung, ob der nach Transplantationsgesetz Art. 9 Abs. 1 geforderte irreversible Ausfall der Funktionen des Gehirns einschliesslich des Hirnstamms in jedem Fall nach Therapieabbruch und anhaltendem Herz-Kreislauf-Stillstand erfüllt ist. Ausdrücklich muss die Behauptung in Fussnote 22 der derzeit geltenden SAMW-Richtlinien geprüft werden: «Ohne Sauerstoff tritt der neuronale Zelltod in weniger als fünf Minuten ein.»
2. Die Organentnahmen nach Herz-Kreislaufstillstand müssen gestoppt werden, bis die Angelegenheit geklärt ist.
3. HLI-Schweiz und die VKAS fordern eine umfassende Aufklärung über die Organentnahme nach Therapieabbruch und anschliessendem Herz-Kreislaufstillstand für alle Personen, die bisher in der Schweiz bei Swisstransplant einen Organspendeausweis angefordert haben. Eine solche Information ist auch für den Eintrag in ein Organspenderegister unerlässlich. Auch muss die Organspende nach Herz-Kreislaufstillstand abgelehnt werden können.
4. Swisstransplant muss den Aufbau des Nationalen Spenderegisters aussetzen, bis alle Unklarheiten beseitigt sind und garantieren, dass potenzielle Organspender vor ihrer Registrierung umfassend informiert sind.

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