In einer neuen Umfrage geben 30 Prozent der Frauen an, schon einmal gegen ihren Willen Sex gehabt zu haben. Anzeige erstatten aber nur wenige. Warum ist das so?
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Eine Frau in einem Frauenhaus. - Keystone
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Das Wichtigste in Kürze

  • In der Deutschschweiz hatten 30 Prozent der Frauen schon einmal Sex gegen ihren Willen.
  • Viele Betroffene scheuen jedoch davor zurück, die Täter anzuzeigen.
  • Ein Grund sind erschwerte Strafverfahren – oft sind Vergewaltigungen Vier-Augen-Delikte.

Die Zahlen einer aktuellen Umfrage schockieren: Knapp ein Drittel der Schweizerinnen gibt an, schon einmal Sex ohne Einwilligung gehabt zu haben. Ein Blick auf die Statistik zeigt: Nur in wenigen Fällen wird Anzeige wegen Vergewaltigung erstattet. Das hat viele Gründe.

30 Prozent erlebten schon sexuelle Gewalt, wiederum 30 Prozent hatten gar schon Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen. Das geht aus einer Studie der Zeitschrift «Annabelle» hervor, in der 6280 Frauen aus der Deutschschweiz befragt wurden. Angesichts der tatsächlich erstatteten Vergewaltigungs-Anzeigen erscheinen diese Zahlen enorm hoch.

Statistik
Schweizweit wurden zwischen 2009 und 2019 jährlich immer zwischen 532 und 679 Fälle angezeigt. - Screenshot Statista/Bundesamt für Statistik

Von 2009 bis 2019 wurden schweizweit jährlich zwischen rund 500 und 700 Fälle angezeigt. Und laut einem Bericht des Bunds aus dem Jahr 2013 erstatten weniger als 20 Prozent aller Opfer Anzeige. Auch die Schweizer Frauenhäuser gehen von einer hohen Dunkelziffer aus. Doch warum schrecken so viele Opfer davor zurück, ihre Peiniger vor Gericht zu bringen?

Delikte geschehen im nahen Umfeld – und unter vier Augen

Gemäss dem Kantonalen Sozialdienst Aargau geschehen die meisten Sexualdelikte im nahen Umfeld. Viele Sexualstraftaten seien sogenannte Vier-Augen-Delikte – eine Aussage, die laut den Schweizer Frauenhäusern für die ganze Schweiz gültig ist.

Maria Gares vom Aargauer Departement Gesundheit und Soziales erklärt auf Anfrage von Nau.ch: «Da gibt es nur die Aussagen des Opfers und der beschuldigten Person – das erschwert die Beweisführung im Strafverfahren. Deswegen erstatten Betroffene oft zurückhaltend Strafanzeige oder erst Jahre danach.»

«Verfahren birgt Gefahr der Retraumatisierung»

Ähnliches beobachten die Frauenhäuser. Gegenüber Nau.ch sagt Lena John vom Dachverband der Frauenhäuser der Schweiz und Liechtenstein: «Eine Anzeige und das damit verbundene Gerichtsverfahren sind für Gewaltbetroffene oftmals sehr belastend.»

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Ein Gerichtsverfahren birgt die Gefahr von Retraumatisierung für Opfer sexueller Gewalt. (Symbolbild) - Keystone

Dabei würden detaillierte und teilweise auch intime Fragen gestellt. «Zudem birgt ein Gerichtsverfahren auch die Gefahr einer Retraumatisierung des Opfers», erklärt John. Das Thema sexuelle Gewalt sei trotz Bewegungen wie «MeToo» weiterhin schambelastet und tabuisiert.

Jährlich nur zwei bis drei forensische Untersuchungen im Aargau

Ist ein Opfer unschlüssig, ob es Anzeige erstatten will, ist im Kanton Aargau eine forensische Befundnahme möglich. Heisst: Spuren und Verletzungen, die durch die Gewalttat verursacht wurden, können nicht lange nach der Tat sichergestellt werden.

Im Aargau wird pro Jahr bei schätzungsweise zwei bis drei Fällen eine solche Befundnahme durchgeführt. Der Kanton hat knapp 690'000 Einwohner. Gares ergänzt: «Schätzungsweise entscheiden sich zehn Prozent davon später für eine Strafanzeige.»

«Männer sind nicht infantil und triebgesteuert»

Wieso ist sexuelle Gewalt an Frauen überhaupt so verbreitet? Besteht punkto Sex bei vielen eine Bildungslücke – gerade in Sachen Konsens? Agota Lavoyer, stellvertretende Geschäftsleiterin Fachstelle für sexuelle Gewalt Lantana ist überzeugt: «Es muss dringend viel mehr getan werden in der Schweiz in der Prävention sexualisierter Gewalt

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«Wir haben ein grosses Problem mit Männergewalt – auch in der Schweiz.» (Symbolbild) - sda - KEYSTONE/LUIS BERG

Es brauche Aufklärungs- und Sensibilisierungsarbeit über Vergewaltigungsmythen, über Victim Blaming (Deutsch: Opferbeschuldigung), über die Geschichte der Rape Culture (Vergewaltigungskultur) und deren historischen Einbettung im Patriarchat, über Konsens.

Würden Sie als Opfer sexueller Gewalt Anzeige erstatten?

Lavoyer ergänzt: «Und dann müssen wir dringend den Fokus verschieben: weg von den Opfern hin zu den Tätern.» Es gelte, von der Haltung wegzukommen, dass Männer infantile, triebgesteuerte Wesen seien, die nicht mal ein «Nein» verstehen könnten.

«Wir müssen verstehen, dass sexualisierte Gewalt kein Frauenproblem ist. Sondern dass wir ein grosses Problem mit Männergewalt haben – auch hier in der Schweiz», so die Opferberaterin.

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Brauchen Sie Hilfe?

Falls Sie oder eine Person aus Ihrem Umfeld sexuelle Gewalt erlebt haben, wenden sie sich an die Opferhilfe-Fachstelle in Ihrem Kanton.

Rufen Sie in akuten Situationen die Polizei unter der Telefonnummer 117.

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