Nach dem Sieg beim Eurovision Song Contest fordert Nemo die Einführung eines dritten Geschlechtseintrages. Wie sieht die wissenschaftliche Grundlage aus?
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Nemo (Mitte), hier mit der Nonbinary-Flagge, fordert einen Eintrag für das dritte Geschlecht. - keystone

Das Wichtigste in Kürze

  • Nemo fordert nach dem ESC-Sieg die Einführung des dritten Geschlechtseintrags.
  • Eine Biologin hält dies für unwissenschaftlich, da es nur zwei Geschlechter gebe.
  • Entscheidend ist die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht.
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Nach Nemos Sieg beim Eurovision Song Contest erhält in der Schweiz die Forderung nach einem dritten Geschlechtseintrag wieder mehr Aufmerksamkeit. Doch ist dieser Wunsch überhaupt mit den wissenschaftlichen Grundlagen vereinbar?

Schliesslich hat man doch im Biologieunterricht gelernt, dass es beim Menschen nur zwei Geschlechter gibt. Doch: Forschende sind sich uneinig.

Im Siegerlied «The Code» thematisiert Nemo eine Reise zu sich selbst. Nemo ist non-binär, identifiziert sich also weder als Mann noch als Frau.

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Nemo hat den ESC gewonnen. Damit befeuert das Musiktalent die Debatte über ein drittes Geschlecht. - keystone

Sich im Personenstandsregister und somit auch auf dem Pass als non-binär eintragen zu können, ist in der Schweiz nicht möglich. Man kann das Geschlecht seit einigen Jahren zwar wechseln, muss sich aber immer noch für männlich oder weiblich entscheiden.

Nemo möchte dies ändern – und ist damit nicht alleine. Mehrere tausend Personen haben einen entsprechenden Brief an den Bundesrat bereits unterzeichnet. Ende 2022 lehnte die Landesregierung die Einführung eines dritten Geschlechtseintrags jedoch noch ab. Mit dem Argument, das binäre Modell sei in der Gesellschaft noch stark verankert. Und: Die Verfassung und zahlreiche Gesetze müssten geändert werden.

Biologin findet Forderung von Nemo «unwissenschaftlich»

Die deutsche Biologin Christiane Nüsslein-Volhard erachtet die Vorstellung, es gebe mehr als zwei Geschlechter, als unwissenschaftlich. Dies machte die Nobelpreisträgerin 2022 in einem Interview mit der Zeitschrift «Emma» deutlich.

Bei allen Säugetieren, zu denen auch der Mensch gehört, gebe es zwei Geschlechter, sagte sie. «Das eine produziert die Eier (weiblich) und das andere die Spermien (männlich).»

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Die Biologin Christiane Nüsslein-Volhard hält die Vorstellung, es gebe mehr als zwei Geschlechter für Unwissenschaftlich. - keystone

Volhard bezieht sich dabei auf das biologische Geschlecht (englisch: Sex), mit dem der Mensch geboren wird. Es wird anhand der Chromosomen definiert. Männer haben ein X- und ein Y-Chromosom, Frauen zwei X-Chromosome.

Es steht im Unterschied zum sozialen Geschlecht (englisch: Gender), mit dem sich der Mensch in der Öffentlichkeit identifiziert. Beide können voneinander abweichen.

«Natürlich ist ein dritter Geschlechtseintrag mit der Wissenschaft vereinbar»

Anders sieht das Laura Eigenmann. Die Soziologin von der Freien Universität Berlin sagt zu Nau.ch: «Unsere Gesellschaft ist aktuell darauf fixiert, das Geschlecht anhand eindeutig zuordenbarer Chromosomen zu bestimmen.»

Sie findet: «Es wäre sicher keine schlechte Idee, dass wir uns hinterfragen, warum und wozu wir daran unbedingt festhalten müssen. Und ob es nicht auch andere Formen gibt, die alle Menschen glücklich macht und allen ein diskriminierungsfreies Leben ermöglicht.»

Kennst du dich mit Gender-Themen aus?

Für sie ist im Gegensatz zu Christiane Nüsslein-Volhard nicht das biologische Geschlecht massgebend: «Die Entscheidung, ob wir nur zwei oder auch mehr Geschlechter anerkennen wollen, ist eine Gesellschaftliche», findet Eigenmann. Für sie ist klar: «Natürlich ist ein dritter Geschlechtseintrag mit der Wissenschaft vereinbar.»

Non-binäre Menschen gibt es, seit es Menschen gibt

«Es gab zu jeder Zeit und in fast allen Kulturen Menschen, die ausserhalb der Geschlechterbinarität lebten», so die Forscherin weiter. «Und sie wurde von ihren Gesellschaften auch so anerkannt und teilweise sogar verehrt. Das wissen wir aus der Geschichte, Ethnologie und Soziologie.»

Biologieprofessor Mariusz Nowacki von der Universität Bern stimmt auf Anfrage zu: «In einigen historischen Gesellschaften ging das soziale Geschlecht tatsächlich weit über die binäre Aufteilung hinaus.»

Aber: «In den meisten Gesellschaften ist historisch gesehen eine binäre Geschlechteraufteilung vorherrschend. Weil das soziale Geschlecht vielerorts auf der biologischen Aufteilung beruhte – und die ist binär. Mit welchem Geschlecht sich Menschen identifizierten, war eng mit ihrer Rolle bei der Fortpflanzung verbunden.»

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Mehrere tausend Personen fordern in einem Brief an den Bundesrat die Einführung eines dritten Geschlechtseintrags.
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Forschende sind sich uneinig, ob ein dritter Geschlechtseintrag mit der Wissenschaft vereinbar ist. (Symbolbild)
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Soziologin Laura Eigenmann findet, die Gesellschaft müsse sich hinterfragen, ob und warum sie unbedingt an der binären Geschlechterzuteilung festhalten müsse.

Ob ein dritter Geschlechtseintrag mit der Wissenschaft vereinbar sei, hange davon ab, um welche Disziplin der Wissenschaften es gehe. «Für die Biologie ist das soziale Geschlecht gar nicht relevant – es ist ein kulturelles Konstrukt.» Nowacki sieht aber kein Problem darin, die binäre Geschlechterzuordnung aufzulösen, wenn der gesellschaftliche Bedarf dafür vorhanden ist.

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