Die Ukrainerin Anna Rizatdinova (29) gewann bei den Olympischen Spielen in Rio 2016 Bronze. Mit Nau.ch sprach sie über den Krieg, ihre Flucht und die Schweiz.
Anna Rizatdinova
Anna Rizatdinova gewann an den Olympischen Spielen in Rio 2016 die Bronzemedaille und gilt seither als RG Legende. - AFP

Nau.ch: Anna Rizatdinova, was ist der Grund, dass Sie in Stuttgart einen Lehrgang für junge Gymnastinnen abhalten?

Anna Rizatdinova: Als ich seitens RSC Stuttgart angefragt wurde, einen Lehrgang für ukrainische Kinder zu machen, habe ich sofort zugesagt.

Ich möchte in der Flüchtlingskrise den Kindern so ein Stück Heimat geben.

Es war für mich klar, dass dieser Lehrgang in Stuttgart stattfinden muss, da hier mit Galina Krilenko (Anm. d. Red. ehemalige Nationaltrainerin von Belarus, und Deutschland, Trainerin von der Olympiasiegerin Marina Lobach) und Gala Pentzlin (7fache Deutsche Meisterin und stellv. Abteilungsleiterin) und Jochen Bitzer (Abteilungsleiter) sehr fachkompetente Menschen arbeiten.

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Anna Rizatdinova gibt zahlreichen Gymnastinnen einen Lehrgang in der Rhythmischen Gymnastik. - Oliver Dütschler

Nau.ch: Sind Sie überrascht, dass so viele Gymnastinnen aus verschiedenen Ländern zu diesem Lehrgang angereist sind? Erinnern Sie sich, welches Vorbild Sie in Ihrer Kindheit hatten?

Anna Rizatdinova: Ich bin überrascht, dass so viele Mädchen gekommen sind und dabei teilweise weite Entfernungen zurückgelegt haben.

Es waren Kinder aus ganz Deutschland, aus Österreich, aus der Schweiz und sehr viele aus der Ukraine hier.

Das Interesse, die Lust und die Sehnsucht nach Normalität ist gross – das berührt mich sehr.

Mein Vorbild als Kind war stets Anna Bessonova (Anm. d. Red. ukrainische Olympia-Medaillengewinnerin in der Rhythmischen Gymnastik).

In meinem Zimmer hingen Plakate von ihr und ich wollte immer so sein wie sie.

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Anna Rizatdinova kontrolliert, dass die Gymnastinnen eine gerade Körperhaltung haben. - Oliver Dütschler

Nau.ch: Was bedeutet es für Sie, wenn Sie in so viele glückliche und strahlende Gesichter von Kindern schauen?

Anna Rizatdinova: Es ist mir ein Anliegen, etwas Gutes zu tun, was in der aktuellen Situation wichtig ist.

Für viele Kinder, die am Lehrgang teilgenommen haben, gibt es derzeit nicht viel Gutes auf der Welt.

Sie stehen ohne Heimat da, sie sehen ihre Väter nicht und müssen sich in einer komplett neuen Lebenssituation zurechtfinden.

Nach dem Lehrgang habe ich mit vielen Gymnastinnen und Eltern gesprochen und es freut mich, dass viele wieder Motivation und Lust haben nach vorne zu schauen.

Es ist wichtig ihnen zu zeigen, dass wir sie sehen und uns um sie kümmern.

Nau.ch: Wie haben Sie den 24. Februar 2022 erlebt? Wo waren Sie am Tag des Kriegsausbruchs und was waren Ihre ersten Gedanken?

Anna Rizatdinova: Ich war am 24. Februar 2022 in Budapest (Ungarn), wo ich einen Lehrgang geplant habe.

Es kursierten bereits seit Januar Gerüchte, dass es zum Krieg kommen könnte, doch ich habe nicht an einen Krieg im 21. Jahrhundert geglaubt.

Um 5 Uhr morgens habe ich einen Anruf erhalten, dass Krieg ist. Da war mein erster Gedanke, wie ich meinen Sohn, der bei einer Babysitterin war, aus Kiev (Ukraine) rausholen und in Sicherheit bringen kann.

Nau.ch: Wie haben Sie Ihrem Sohn Roman den Krieg erklärt?

Anna Rizatdinova: Mein Sohn ist fünf Jahre alt, er ist neugierig und stellt viele Fragen: Warum fahren wir weg? Wann kommen wir zurück? Wann kann ich wieder in meinen Lieblingskindergarten gehen? Wann sehe ich meine Freunde wieder?

Ich habe ihm erklärt, dass dies aktuell nicht möglich ist, da Raketen überall einschlagen und es überall brennt. Sobald es vorbei ist, werden wir zurückkehren.

Gymnastik
Die Teilnehmerinnen am Lehrgang wollen Autogramme und Bilder mit ihrem grossen Vorbild. - Oliver Dütschler

Nau.ch: Sie sind mit Ihren Eltern und Ihrem Sohn nach Barcelona geflüchtet. Wie sind Sie nach Spanien gekommen?

Anna Rizatdinova: Als ich gehört habe, dass Krieg ist, habe ich den Lehrgang in Budapest umgehend abgesagt und bin sofort nach Lemberg (Ukraine) gereist, wo ich mich mit meinem Sohn getroffen habe.

Die Situation war hochgefährlich, die Trainerin meines Leistungszentrums musste auf der Flucht von Kiev in Richtung Lemberg drei Tage und Nächte grosse Umwege fahren, da die Strassen dauernd unter Beschuss waren.

Wir blieben dann ein paar Tage in Lemberg und lebten in Bunkern. Dort habe ich auch das erste Mal die Sirenen gehört. Danach bin ich mit meinem Sohn zu Verwandten in Bulgarien gefahren.

Anschliessend ging es weiter für zwei Wochen nach Frankreich. Es stellte sich mir die Frage, wohin wir den Krieg absitzen sollen. Ich habe an Österreich und die Schweiz gedacht, doch letztlich ist es Barcelona in Spanien geworden.

Nau.ch: Der Krieg ereignet sich in einem Zeitalter, in dem die Sportler in den sozialen Medien viel präsenter sind als früher. Sehr viele ukrainische Sportler haben sich auch positioniert und posten regelmässig. Welche Rolle kommt einer bekannten Sportlerin wie Ihnen zu?

Anna Rizatdinova: Am Anfang hatte ich auch regen Kontakt mit der Sport Community in der Ukraine. Ich war bei einem Forum in Brüssel eingeladen, gab zahlreiche Interviews und wirkte in Videoproduktionen mit.

Ich sehe meine Rolle darin Aufklärung zu betreiben, d.h. der Welt aus erster Hand zu zeigen, was wirklich passiert.

Mittlerweile merke ich, dass die Leute sich nicht die ganze Zeit mit dem Krieg auseinandersetzen möchten, sondern weiterleben und sich der Situation anpassen wollen.

Ich versuche nach wie vor aufzuzeigen, dass der Krieg nicht vorbei ist und gleichzeitig ein Stück Normalität in mein Leben zu bringen.

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Anna Rizatdinova (l.) mit Galina Krilenko, ehemalige Nationaltrainerin von Weissrussland und Deutschland, Trainerin der Olympiasieger Marina Lobach. - Oliver Dütschler

Nau.ch: Viele ukrainische Sportler haben die russischen Sportler in den sozialen Medien direkt mit den Verbrechen konfrontiert und sie aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen. Die Reaktionen waren teilweise sehr ausweichend bis ablehnend. Wie ist die Rolle der russischen Sportler in diesem Krieg zu bewerten?

Anna Rizatdinova: Beim Kriegsausbruch hat mir nur eine Person aus dem Umfeld der russischen Nationalmannschaft geschrieben, dass wir durchhalten sollen.

Ich habe diesbezüglich nie etwas gepostet, aber die ganzen Kommentare von russischen und weissrussischen Sportlern natürlich auch gelesen.

Doch die Konzert-Veranstaltung «Für Frieden gegen Krieg» in Moskau, wo die Gymnastinnen mit dem «Z-Symbol» in der ersten Reihe standen, sagt mir alles.

Ich verstehe, dass man den Gymnastinnen gesagt hat, diese Nationaluniform tragen zu müssen – doch für Gymnastinnen wie Dina und Arina Averina, die grosse Vorbilder sind, gehört es dazu, dass sie sich vorab entsprechend informieren, wofür das «Z-Symbol» steht. Dafür habe ich kein Verständnis.

Nau.ch: Finden Sie es richtig, dass die russischen und weissrussischen Sportler von offiziellen Wettkämpfen des Weltverbandes FIG ausgeschlossen wurden?

Anna Rizatdinova: In der aktuellen Situation finde ich das richtig. Solange Raketen fliegen, solange ukrainische Sportler sterben, solange die komplette Sportinfrastruktur zerstört wird, solange die Väter und Brüder an der Front kämpfen, finde ich das richtig.

Wie können sich ukrainische Athleten, die in Bunkern trainieren mit russischen Athleten, die in Frieden trainieren, bei internationalen Wettkämpfen vergleichen?

Dies ist völlig absurd. Die russischen und weissrussischen Sportler schweigen, was letztendlich eine Zustimmung ist.

Die Situation wäre anders zu bewerten, wenn die Sportler selbst ein öffentliches Statement machen würden, dass sie gegen Krieg sind und sich somit klar und deutlich von diesem Krieg distanzieren.

Nau.ch: Bei den Olympischen Spielen in Rio 2016 standen zwei Russinnen mit Ihnen auf dem Podest. Inwiefern ragen die nationalen und teilweise nationalistischen Debatten in den Sport hinein?

Anna Rizatdinova: Erfahrungsgemäss mischt Politik im Sport mit. Es hat mich aber gefreut, dass nach an den Olympischen Spielen in Rio 2016 die Medaillenverteilung in Tokio komplett anders war als in der Vergangenheit.

Zu meiner Zeit war nicht mal der Gedanke da, dass eine Westeuropäerin beispielsweise aus Italien im Einzel auf dem Podest steht.

Im Endeffekt ist dies ein klares Statement, dass man mit guter und professioneller Arbeit alles erreichen kann.

Es freut mich, dass die Sportart Rhythmische Gymnastik offener und breiter aufgestellt ist.

Nau.ch: Was macht eigentlich Anna Rizatdinova heute und ist Ihre international reputiertes Trainingszentrum (Anm. d. Red. «Rizatdinova Academy») in Kiev noch in Betrieb?

Anna Rizatdinova: Die Academy habe ich am 24. Februar 2022 mit einer Whatsapp-Nachricht an alle Eltern geschlossen.

Die 120 Kinder sind mit ihren Eltern irgendwo ins Ausland geflüchtet.

Ab August sind einige Trainerinnen und Gymnastinnen wieder zurückgekehrt, so dass wir mit 15 Mädchen wieder starten konnten. Mittlerweile sind es ungefähr 40 Kinder, die dort wieder trainieren.

Die finanzielle Situation ist schwach, da wir die Hallenmiete weiterbezahlen mussten.

So wirtschaften wir derzeit finanziell ins Minus, doch für mich ist wichtig, dass die Kinder trotzdem zum Training kommen, weil das sie ablenkt, sie sich sportlich betätigen und ein Stück Normalität für sie bedeutet.

Nau.ch: Waren Sie eigentlich bereits einmal in der Schweiz?

Anna Rizatdinova: Bisher war ich immer nur auf der Durchreise in der Schweiz. Aus meinem Trainingszentrum «Rizatdinova Academy» in Kiev sind auch Familien in die Schweiz geflüchtet, mit denen ich in Kontakt stehe und die mir oft geschrieben haben, dass ich in die Schweiz kommen soll.

Nau.ch: Könnten Sie sich überhaupt vorstellen, in der Schweiz zu leben? Was wissen Sie über die Schweiz?

Anna Rizatdinova: Aktuell realisiere ich erst richtig, dass ich ein Flüchtling bin, der kein Zuhause hat – den mein Zuhause ist in der Ukraine.

Durch meine Popularität, die ich mir erarbeitet habe, habe ich es mit meinen internationalen Kontakten möglicherweise etwas einfacher als andere Flüchtlinge.

Aktuell fühle ich mich in Spanien wie in einem ungewollten Urlaub. Man lebt aktuell vor sich hin, schaut was kommt und kann sich alles vorstellen. Für einen neuen Lebensmittelpunkt müsste es irgendeinen Aufhänger geben – dies könnte der Job sein, oder dass mein Sohn hier eine Zukunft hat.

Ich weiss, dass in der Schweiz grossen Wert auf Umweltschutz gelegt wird. Auch die Natur soll in der Schweiz wunderschön sein – und natürlich kenne ich die Schweizer Schokolade und die Banken.

Nau: Was macht Ihnen Hoffnung für die Zukunft?

Anna Rizatdinova: Ich weiss und hoffe, dass die Ukraine im Endeffekt siegt, alle Ukrainer zurück nach Hause kommen und wir gemeinsam die Zukunft aufbauen können.

Die Initiative wird gefördert durch das Bundesprogramm «Integration durch Sport» des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) aus Mitteln des Bundesministeriums des Innern und für Heimat.

Das Programm wird in Württembergischen Landessportbund in Kooperation mit dem Landessportverband Baden-Württemberg umgesetzt.

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Anna Rizatdinova posiert mit den Gymnastinnen von Trainerlegende Galina Krilenko (ganz links) vom RSC Stuttgart. - Oliver Dütschler
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Anna Rizatdinova gewann an den Olympischen Spielen in Rio 2016 die Bronzemedaille und gilt seither als RG Legende. - AFP
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